Unvollendet und doch ein Ganzes
"Verrückt sein heißt ja nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert."
Ein Widerspruch in sich? Auf den ersten Blick ja, doch bei genauer Betrachtung wird der Unterschied deutlich: Bei "bescheuert" ist der Intellekt und die geistige Leistungsfähigkeit beeinflusst, mit "verrückt" wurden bis zum 19. Jahrhundert bestimmte Verhaltens- und Denkmuster bezeichnet, die nicht der sozialen Norm entsprachen. Stets wurde dabei von gesellschaftlichen Konventionen bestimmt, was genau als "verrückt" eingestuft wurde. "Verrückt" ist also variabel, lässt vieles offen. Von außen wird bestimmt, was "normal" ist, doch wie sieht es von innen aus? Dass "verrückt" nicht gleich bescheuert ist und sogar lebendig unverzaubernd sein kann, zeigt Wolfgang Herrndorf mit seinem letzten Roman, den er zwar nicht mehr vollenden konnte, der aber trotzdem zu einem stimmigen Ganzen geworden ist.
Isa ist verrückt und eigentlich sollte sie sich in einer Anstalt befinden. Doch als ein LKW einfährt und das Tor aufgeht, gelingt es ihr hinauszuhuschen. Nach draußen, wo es viel besser ist und nicht so finster, sondern wie immer und auch Isa wie immer sein kann, was auch immer wie immer bedeutet. Ohne Schuhe und nur mit den Kleidern, die sie am Leib trägt, macht sie sich auf den Weg. Sie beginnt eine ziellose Reise mit vielen Begegnungen, macht Bekanntschaft mit einem Binnenschiffer, der vorgibt, ein Bankräuber zu sein, einem LKW-Fahrer, der in ihr vor allem ein Lustobjekt sieht, einen toten Förster, einen eigenartigen Schriftsteller und zwei Jungen, von denen ihr einer gut gefällt. Und ja: Nach heutigen Konventionen ist Isa nicht normal, aber ist sie deswegen gleich verrückt?
Wolfgang Herrndorf wurde 1965 in Hamburg geboren. Er studierte Malerei und hat unter anderem für das Satiremagazin "Titanic" gezeichnet. 2002 erschien sein Debütroman In Plüschgewittern, 2007 der Erzählband Diesseits des Van-Allen-Gürtels und 2010 der Roman Tschick, der zum Überraschungserfolg des Jahres wurde. Wolfgang Herrndorf wurde u.a. mit dem Deutschen Erzählerpreis (2008), dem Brentano-Preis (2011), dem Deutschen Jugendliteraturpreis (2011), dem Hans-Fallada-Preis und dem Leipziger Buchpreis (2012) ausgezeichnet. Wolfgang Herrndorf starb am 26. August 2013 nach schwerer Krankheit.
Isa ist anders, sie nimmt ihre Umwelt anders wahr, hat eine andere Sicht auf die Welt, ihre Mitmenschen und auf ihr Leben. Vor allem hat sie andere Prioritäten. Sie legt keinen Wert auf Konventionen, deren Bedeutung für sie nicht ersichtlich sind, sie macht, wonach ihr der Sinn steht und lässt sich von ihrer Neugier leiten. Sie beobachtet genau, macht sich ihre eigenen Gedanken und hinterfragt, was sie sieht, denn:
"verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert"
Das ist Isa ganz sicher nicht. Sie geht durch die Wiesen, Felder und Wälder, trifft Menschen und macht Bekanntschaften und nimmt den Leser mit und lässt ihn an ihrer Welt teilhaben.
Wolfgang Herrdorf ist mit seinem Buch Bilder deiner großen Liebe, das erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde und das er selbst nicht mehr fertigstellen konnte, ein berührender Roman gelungen. Obwohl Herrndorf aufgrund seiner fortschreitenden Erkrankung und der damit verbundenen Folgen keinen Roman mehr schreiben wollte, begann er doch die Geschichte von Isa, dem geheimnisvollen Mädchen aus seinem Erfolgsroman Tschick. Obwohl es als ein "überschaubares" Projekt gedacht war, wurde im Lauf der Arbeit klar, dass er es nicht würde fertigstellen können. Ein unvollendetes Werk zu veröffentlichen war für ihn jedoch lange nicht vorstellbar. Sein Wunsch, jemand anders solle das Buch für ihn zu Ende schreiben, erfüllte sich jedoch nicht, denn "eine Rolle als Koautor konnte und wollte sich niemand vorstellen", wie im Anhang des Buches nachzulesen ist. Aus dem lückenhaften Text sollte der Herausgeber durch redigieren, streichen, anordnen, wieder einfügen zuvor herausgenommener Passagen am Ende einen zusammenhängenden Text erstellen. Es ist ein Text entstanden, der Lücken hat, die wunderbar in die Geschichte von Isa passen, eine Geschichte, die stellenweise widersprüchlich ist, widersprüchlich wie Isa selbst. Gerade die Brüche verknüpft mit der Geschichte um die Entstehung berühren. Es ist Herrndorfs letztem Roman anzumerken, unter welchen Umständen er entstanden ist. Häufig erscheint im Buch das Motiv Tod, beispielsweise als Isa einen kleinen Jungen trifft, der Frösche in einem Eimer gefangenhält, die sie befreit und vorm Tod rettet. Oder als Isa, während sie Gleitschirmflieger beobachtet, über Selbstmord nachdenkt:
"Ich denke darüber nach, habe mein ganzes Leben darüber nachgedacht, wie ich mich umbringen würde, wenn ich mich umbringen würde. Ich würde Tabletten schlucken und mich dann auf den Rand eines Hochhauses setzen, damit ich runterfalle, wenn ich müde bin. Das wollte ich schon mit fünf. Ich meine, ich wusste, dass ich so sterben will: fallen."
Mit Bilder deiner großen Liebe ist Wolfgang Herrndorf posthum ein außergewöhnlicher und bewegender Roman gelungen, der nicht nur durch seine Authentizität, sondern auch durch seine Geschichte überzeugt.
Ein lesenswerter Roman, der seinen Vorgängern Tschick oder Sand in keinster Weise nachsteht!
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