Herkunft

  • Hamburg: Hörbuch Hamburg, 2014, Seiten: 3, Übersetzt: Burghart Klaußner, Bemerkung: ungekürzte Lesung
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Sebastian Riemann
871001

Belletristik-Couch Rezension vonOkt 2014

Die Kindheit neu erlebt und reflektiert

Präzise und gefühlvoll berichtet Botho Strauss von seiner Kindheit im Haus des Vaters, der den Tag am Schreibtisch zubrachte und dem Sohn den Weg vorgab. Eine Sammlung von Anekdoten und Gedanken über die Vergangenheit, das Erinnern, das Aufwachsen in einem Kurort mit altem Glanz und Namen, Arbeit und Vergnügen, Zuneigung und Auflehnung. Ein persönliches Buch und Zeugnis einer Zeit, die schon weit entfernt scheint, durch die wunderbare Sprache des Autors jedoch lebendig wird, faszinierend wie eine Landschaft in einer Schneekugel.

Die Herkunft bestimmt uns in großem Maße, doch bestehen wir auf unserem Recht zur Eigenständigkeit, zur individuellen Entwicklung. Wir wollen nicht nur Produkt unserer Vorfahren sein, sondern selbst entscheiden wer wir sind. Im Falle von Botho Strauss ist der Vater die prägende Figur, die ihn beeinflusst, der er ähnelt. Mit viel Ruhe betrachtet er ihn in der Retrospektive, setz ihn dem damaligen und dem heutigen Urteil aus. Detailliert beschreibt er die Routinen des Mannes, der im home office arbeitete, sich trotzdem jeden Morgen mit Hingabe und Ordnung ankleidete, dabei seine Morgenzigarette rauchte, einen ausgedehnten Spaziergang unternahm, bevor er sich in sein Arbeitszimmer begab, an den Schreibtisch setzte um pharmazeutische Gutachten zu schreiben und den Raum für den Rest des Tages belegte.

Ehrlich geht der Autor mit seinen Erinnerungen um, versucht nicht den Vater zu verherrlichen oder ihn zu entzaubern. Ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Zustimmung und Ablehnung findet sich in den Anekdoten genauso wie in den Kommentaren, die direkt den Vater zum Ziel haben. Bewunderung spricht aus den Worten des Sohnes, wenn er die Hände des Vaters, ihre Sicherheit und Ruhe beschreibt, aber auch wenn er von der Tüchtigkeit und Eleganz des Mannes erzählt, der von vielen belächelt wurde und der wenig unter Menschen ging. Ein kluger Vater war er, konnte den Sohn mit seinen Erklärungen begeistern und intellektuelles Interesse in ihm wecken. Ohne sich in unnützen Rechtfertigungen zu verlieren reiht Strauss abwertende Kommentare an, zeigt Desinteresse für das Schaffen des ehemaligen Ernährers, spricht von Scham, wenn er ihm in der Öffentlichkeit begegnet und ihn ignoriert. Widersprüchlich ist die Haltung des Sohnes und deshalb sehr überzeugend.

Mutter und Grußmutter haben nur wenig Raum im Gedächtnis des Autors, sie wirken wie Bedienstete im Haushalt des Vaters und Sohnes, sie werden im Hintergrund gehalten, bekommen nur selten die Möglichkeit ein Wort an das Publikum zu richten, sich zu präsentieren. Die Allmacht des Vaters schiebt sie aus dem Kopf des Jungen, der fasziniert ist von seinem Erzeuger, ihn vorbehaltlos und uneingeschränkt als Herr und Oberhaupt der Familie anerkennt.

Die Idylle Bad Ems´ gibt die Kulisse für die Kindheit des jungen Botho Strauss, die Lahn, das Grün der umliegenden Landschaft, aber vor allem die alten Gebäude des Kurortes, der schon Gogol und Dostojewski beherbergte und dem kleinen Städtchen ein wenig Ruhm bescherte. Der Wandel der Zeit wird beschrieben, manchmal mit Bezügen zum bundesdeutschen Geschehen und so ist Herkunft auch mehr als eine persönliche Rückschau, wird Zeitkommentar, Kritik und Reflektion der großen Umstände, die den Jungen damals prägten.

 

"Und sind noch immer dieselben Wiesen, auf denen uns Kinder der Flurhüter jagte, der das Obst vor Dieben schützte. Wer wäre heute der Wächter vor den ungeernteten Bäumen, den reifen Früchten im Überfluß? Weder Kriegerwitwe noch Häusler noch Strolch, die hierher zum Plündern kämen. Die Früchte verderben in großer Fülle und stehen in grauer Verlassenheit, so daß sie nicht einmal mehr die Stare anlocken. Sie schwellen und lasten am Zweig wie uneingestandene Wörter der Liebe. Sie bieten den traurigen Anblick, Mißgeschenke der Erde zu sein."

 

Die Sprache des Autors ist sehr genau, jedoch nicht kärglich und kalt, wie es bei anderen Schriftstellern zu sehen ist, wenn sie das Überflüssige vermeiden wollen. Strauss muss nicht mit Worten sparen, er beherrscht sie wie kein Zweiter, kann ihnen ein wenig mehr entlocken als sie zu enthalten scheinen, kann mit ihnen das Vergangene entfalten ohne unnötig abzuschweifen. Er weiß was er sagen will und der Leser spürt diese Sicherheit bei der Lektüre, kann eintauchen in die Erinnerungswelten, die nacheinander öffnen, sich miteinander verbinden, um ein einfühlsames und interessantes Erlebnis zu schaffen.

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