Verlorene Illusionen
- Carl Hanser
- Erschienen: Januar 2014
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- München: Carl Hanser, 2014, Seiten: 960, Übersetzt: Melanie Walz
- Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1924, Bemerkung: in Gesammelte Werke I
Jahrmarkt der Charakterlosigkeit
Balzacs Verlorene Illusionen ist eins der Hauptwerke aus Die menschliche Komödie. Der umfangreiche Gesellschaftsroman besteht aus drei Teilen und erzählt die Geschichte von Lucien Chardon und David Séchard. Der erste Teil liefert ein vergnügliches Porträt des Lebens in der Provinz. Lucien, ein Apothekersohn und Poet, der über bescheidene Fähigkeiten verfügt, träumt von gesellschaftlicher Anerkennung. Sein Freund David, Besitzer einer Druckerei, hält sich im Hintergrund auf. Er ist innovativ in seinem Arbeitsbereich. Luciens Schwester Ève und David, die einander lieben, sind die Finanziers des Lucienschen Lebensstils.
Der schöne Lucien gelangt zu Ansehen, als Madame Naïs de Bargeton, die gesellschaftliche Leitfigur des Provinzstädtchens Angoulême, ihn in ihre Kreise aufnimmt. Für ihn nennt sie sich Louise. Sie ist jedoch eine Frau mit Absichten, die sich auf den in Paris ansässigen Baron du Châtelet beziehen, der es seinerseits abgesehen hat auf das Vermögen von Louise.
Der junge Mann und die Dame mittleren Alters verflüchtigen sich nach Paris. In der großen Stadt trifft Lucien auf eine andere Qualität von Menschen als die in Angoulême. Er läuft gesellschaftlich auf, nicht zuletzt, weil er sich den Adelsnamen de Rubempré anmaßt, Naïs verabschiedet sich, dem Rat einer Verwandten bei Hofe folgend, aus der Liebesbeziehung. Sein Mentor wird Daniel d'Arthez, der ihn als Schriftsteller Geduld lehren will und ihn vor dem Journalismus warnt. Einer seiner neuen Freunde wird der korrupte Journalist Etienne Lousteau, von dem sich Lucien beeinflussen lässt.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein bestimmt das Sein
Luciens Illusionen gehen in Paris verloren, wo er zum Zyniker wird. Mit seiner gesellschaftlichen Isolation beginnt für ihn etwas Neues: sein Existenzkampf. Er versucht sich als Schriftsteller und wechselt in den Literaturbetrieb, arbeitet an seinen Gedichten und einem historischen Roman. Lucien lernt die Beziehungen zwischen Qualität und Quantität kennen. Massenware für den Massengeschmack verkauft sich gut, anspruchsvolle Literatur mit Anliegen interessiert kaum einen Menschen. Lucien muss seine Literatur auf einem Wettbewerbsmarkt anbieten, der Instanz, wo sie endgültig zu einem Produkt wird. Die Leser erfahren, dass der Diskurs um den Warencharakter kultureller Artefakte schon weit vor dem Millennium existierte. Romantische Vorstellungen, die Lucien mit Blick auf seine Existenz als Schriftsteller hat, vergehen in der Brandung des Kapitalismus.
Aber Lucien scheitert nicht an den ökonomischen Bedingungen. Im Gegenteil lernt er schnell und kann sie sich bald zunutze machen.
Einer der Literatur vergleichbaren Produktions- und Verwertungslogik folgen der Journalismus und das Theater. Die drei Sphären werden von Balzac meisterlich beschrieben. Verlage, Herausgeber, Theaterleute – sie alle bewegen sich in einem korrupten Netzwerk aus Tauschbeziehungen. Zeitungen erhalten vom Theater Eintrittskarten und verschiedene Sonderleistungen. Das Theater abonniert die Zeitungen. Kritiker schreiben positive Kritiken. Im Theater sitzen gekaufte Claqueure, die ihren Beitrag zum Erfolg oder Misserfolg eines Stücks leisten.
Hinzu kommen sexuelle Dienstleistungen, der Kauf und Verkauf von Rezensionen, die Nutzung der Möglichkeit, im Feuilleton anderen Menschen zu schaden, das Verhökern von Idealen an den Meistbietenden. Lucien, der schon mal Auftragsrezensionen schreibt und feststellt, dass diese sich leichter produzieren lassen, wenn er das betreffende Buch gar nicht erst liest, durchdringt all dies und wähnt sich bald an der Spitze dieses Beziehungsgefüges, das ihm jedoch tatsächlich über den Kopf wächst.
Von eigennützigen Freunden und Beratern umgeben, die ihr eigenes Versagen und das Luciens als Stärke interpretieren, entwickelt Lucien die Tendenz, aus einer Menge verfügbarer Handlungsalternativen sich für die schlechtere zu entscheiden. All dies wird jedoch dadurch überlagert, dass Lucien David und Ève mit in den Abgrund zu ziehen droht.
Balzacs Roman zu lesen erfordert Zeit und Energie. Er vermittelt, so der Leseeindruck, jedes verfügbare Detail über einen Charakter und dessen gesellschaftliches und technologisches Umfeld, begibt sich tief in die Hirnwindungen seiner Figuren und in deren Zeit. Balzac hat mit Verlorene Illusionen einen zynischen Roman mit einem schwachen Protagonisten geschrieben, der in einer korrupten Welt zurechtkommen will. Die Neuübersetzung von Melanie Walz für Hanser enthält den Roman, Vorworte und einen rund hundert Seiten umfassenden Anhang.
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