Reise in die Vergangenheit
Abgeschieden liegt sie da, im Südwesten Berlins im Ortsteil Wannsee. Zwar sind es nur 22km Luftlinie bis zur Stadtmitte Berlins und gerade einmal fünf Kilometer bis zur Stadtmitte Potsdams, doch fehlt ihr der Trubel, der nur ein wenig weiter herrscht. Die zum Weltkulturerbe gehörende Pfaueninsel zählt zwar zu den beliebtesten Ausflugszielen Berlins, doch da größtenteils als Naturschutzgebiet ausgezeichnet, konnte sie ihren ursprünglichen Charakter behalten. Nicht umsonst wird sie im Volksmund "Die Perle im Havelmeer" genannt, denn auch heute wird sie noch durch die von 1821 bis 1834 nach englischem Vorbild gestaltete Landschaft mit ihren kostbaren botanischen Gewächsen und verborgenen Tiergehegen geprägt. Als Rückzugsort der Preußenkönige entstand hier ein exotisches Paradies, auf dem sich neben den Pfauen, die der Insel ihren Namen gaben, Tiere aus fernen Länder wie etwa Löwen, Kängurus, Rentiere oder auch Affen tummelten. Hinzukamen fremdartige Menschen wie Zwerge, Riesen oder Südseeinsulaner, die im 19.Jahrhundert noch als eine Rarität angesehen wurden. Was liegt da näher, als die Geschichte dieser faszinierenden Insel zum Schauplatz einer Geschichte zu machen und über 200 Jahre zurückzugehen in die Zeit, in der die Pfaueninsel zu dem wurde, wofür sie heute berühmt ist.
Maria Dorothea Strakon, genannt Marie, ist kleinwüchsig. Gemeinsam mit ihrem Bruder lebt sie seit ihrem sechsten Lebensjahr auf der Pfaueninsel als das sogenannte Schloßfräulein des dortigen Schlosses. Eine Rarität unter Raritäten, die der Leidenschaft des jungen Königs für das Ungewöhnliche zuzuschreiben ist, denn neben Marie und ihrem Bruder findet sich allerlei Exotisches auf der Insel. Es ist eine eigene Welt, die sich dort auf weniger als hundert Hektar befindet. Eine scheinbar märchenhafte Welt, die anders als es auf den ersten Blick scheint, voller Intrigen, Hinterlist und Hierarchien ist. Hettche begleitet Marie in seinem Roman bis ins hohe Alter von knapp 80 Jahren, erzählt von ihren Sehnsüchten, Zweifeln, ihrer Position in der Welt der großen Menschen und ihrer tragischen Liebe. Gleichzeitig berichtet er von der Schönheit der Insel, ihrem Aufstieg, ihrer Blütezeit und schließlich ihrem langsamen Zerfall, in dem sie nach und nach ihre einstiege Pracht verliert.
Thomas Hettche, geboren 1964, gelang bereits mit seinem Romandebüt Ludwig muß sterben, der 1989 als Geniestreich gefeiert wurde, der Durchbruch. Er veröffentlichte anschließend mehrere Bestseller, die teilweise, wie beispielsweise Der Fall Arbogast, in zwölf Sprachen übersetzt wurden. Wie auch 2006 mit Woraus wir gemacht sind wurde er 2014 mit Pfaueninsel erneut für den Deutschen Buchpreis nominiert. Hettche lebt in Berlin.
Wie im Märchen kommt Hettches neuester Roman Pfaueninsel daher. Der Autor erzählt die Geschichte der Zwergin Marie, die zwischen vielen exotischen Tieren zu einer Zeit in der es noch Königinnen und Könige gab, abgeschieden als Schloßfräulein auf einer Insel lebt. Was auf den ersten Blick wirklich wie ein Märchen erscheint, fußt doch auf historisch belegten Fakten. Marie hat wirklich gelebt, die in der Havel existierende Pfaueninsel weist noch heute Überreste ihrer einstiegen Pracht auf. Auch wenn die Geschichte um Marie wohl frei erfunden ist, wirkt die Mischung aus Fiktion und Realität faszinierend und gibt der Erzählung das Besondere. Hettche lässt einen in fremde Zeiten und eine noch fremdere Welt eintauchen, wobei das Wissen, dass Zeit, Ort und Person nicht erfunden sind, das Märchen scheinbar wahr werden lassen. Nur ist es kein Märchen, wie Hettches Protagonistin auf harte Weise lernen muss:
"Daß man sie Schloßfräulein nannte, war nichts als ein Maskenspiel in der Spielzeugfabrik der Pfaueninsel wie alles andere hier auch, wie der Gutshof, bei dem es ganz gleichgültig war, wieviel Milch die Kühe gaben, wieviel Wolle die Schafe, alles nur Maskerade, Kulisse wie die Mauern des Schlosses, die nicht aus Steinen, sondern aus bemalten Brettern bestanden. Schloßfräulein, dachte Marie, und begann zu weinen, war sie nur in dieser Welt der Lüge, in der wirklichen aber ein Monster. Und sie hatte es ja immer gewußt. Die Jahre auf der Insel hatten dieses Wissen nur beruhigt, hatten es einschlafen lassen und ihr das Gefühl gegeben, es könnte doch gut sein, wie sie nun einmal war."
Feinfühlig und mit Gespür für Details nimmt Hettche seine Leser mit zurück in eine Zeit, in der in der Gesellschaft noch völlig andere Normen und Werte, ein anderer Umgang mit Sexualität, Liebe und Menschenwürde herrschte. Offen schildert er die Beziehungen der Menschen in seinem Roman, weicht auch intimen Szenen nicht aus. Aus der Perspektive Maries erzählt werden vor allem ihre Gefühle und Gedanken deutlich, wie sie über ihre Welt auf der Insel denkt, sich verliebt, ihren Bruder verliert und sich ihre Sicht auf die Welt ändert, was später durch die Wegnahme ihres Sohnes noch verstärkt wird und sie im Laufe der Jahre immer reflektierter wird und sie schließlich jeglichen Optimismus verliert:
„Marie hätte schreien wollen, doch sie konnte es nicht. Konnte nicht schreien und konnte nicht weglaufen. Der Käfig war um sie. All die Jahre. Nur hatte sie es nicht gespürt."
Hettche gelingt es dabei seinen Inhalt sprachlich genau passend darzustellen, indem er klar formuliert und Worte nutzt, die heute im normalen Sprachgebrauch eher selten anzutreffen sind und in die Zeit seines Romans passen:
"Ziellos kratzte ihre Gedanken über die Erinnerungen hinweg, ohne daß diese deutlicher geworden wären."
Alles in allem ist Pfaueninsel ein Roman, der in der Lage ist, den Zauber einer vergangenen Zeit, die Schönheit einer Insel und die tragische Geschichte einer starken Frau allein durch Worte eindrucksvoll zu vermitteln. Hettche gelingt es mit seinen Worten, die Insel wieder in ihre Blütezeit zu versetzen und ihr ihre einstiege Pracht für die Dauer seiner Erzählung zurückzugeben. Gleichzeitig zeichnet er mit der Geschichte Maries ein völlig anderes Bild der damaligen Zeit, weit ab von märchenhaftem Zauber. Ein lesenswerter Roman!
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