Der letzte Versuch glücklich zu werden
Marion und Art fahren für ein paar Tage zu den Niagarafällen, dem Ort ihrer Flitterwochen. Doch nach vielen Jahren der Ehe ist der anstehende Besuch kein Wiederbeleben romantischer Gefühle. Die Bande zwischen den beiden Eheleuten ist nicht mehr so stark wie früher, darin sind sich beide einig. Sie werden sich bald scheiden lassen, so haben sie es vereinbart. Zu diesem Schritt brachte sie jedoch nicht die Einsicht über ihr wenig liebsames Zusammenleben, sondern die gemeinsamen finanziellen Nöte. Marion und Art sind pleite und müssen demnächst Privatinsolvenz anmelden. Sie werden ihr Haus verlieren, das Haus, in dem sie ihre Kinder großgezogen haben und einen Großteil ihres Lebens verbracht haben, der Mittelpunkt ihres Familienlebens. Ihnen wird nicht viel bleiben.
Art machte den Vorschlag vor der Insolvenz noch einmal zu den Niagarafällen zu fahren, ein paar schöne Tage zu verbringen, dabei viel Geld auszugeben, was sie ohnehin nicht mehr haben werden, wenn die Finanzbehörde sich ihrer annimmt, und ihre gesamten Ersparnisse im Casino einzusetzen. Er hat sich mit verschiedenen Strategien beim Roulette beschäftigt und die beste Methode gefunden. Es ist ein letzter Versuch, das Ruder herumzureißen. Wenn der Plan misslingt, kommt die Insolvenz und die Scheidung. Die würden aber auch kommen, wenn sie nichts unternehmen würden und eigentlich würden sie in solchen Situationen nichts unternehmen, denn sie entspringen der Mittelschicht und sind ungeeignet für derartig riskante Verzweiflungstaten. Dementsprechend nervös und unsicher sind sie bei der Durchführung ihres Planes.
Marion sieht der Trennung gespannt entgegen, auch wenn sie nicht mehr die Jüngste ist und keine konkreten Pläne hat, will sie noch einmal von vorn anfangen, sich noch einmal in etwas Neues stürzen. Sie will sehen, ob sie ihrem Leben etwas abgewinnen kann. Die letzten Jahre waren ermüdend und auch mit Schmerzen versehen. Art hatte sie mit einer jüngeren Frau betrogen und sie konnte es ihm nicht verzeihen. Seitdem fühlt sie sich verpflichtet sein Glück zu beschränken.
Stewart O'Nan gehört zu den großen amerikanischen Erzählern, seit den frühen 90ern veröffentlicht er mit viel Erfolg. Für das Manuskript zu seinem ersten Roman Engel im Schnee erhielt er den Pirate´s Alley Faulkner Prize im Jahre 1993. Drei Jahre später wurde er als einer der besten jungen Schriftsteller Amerikas bezeichnet. Nach vielen ruhigen Jahren ist ihm mit Die Chance ein Buch gelungen, welches wieder mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erregt. Thematisch bleibt er sich dabei treu, denn auch in seinen anderen Romanen spielen familiäre und Liebesbeziehungen die zentrale Rolle.
Der vorliegende Roman befasst sich in sehr einfühlsamer Weise mit der Dynamik der beiden Eheleute Marion und Art. Die kleinen Verstimmungen, die Sticheleien, aber auch die großen Enttäuschungen und Schmerzen, die aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit resultieren, werden mit sehr viel Geschick dargestellt. Der Leser nähert sich den beiden Figuren mit großem Tempo, denn in allem, was sie tun, steckt mehr Bedeutung als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Die spektakulären Wasserfälle sind nur Kulisse, die unterhalten soll und als Katalysator wirkt. O´Nan versteht es die Gedanken und Gefühle der beiden Personen gekonnt zu verflechten. Dabei kommen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen. Dem Leser wird ein Paar präsentiert, welches einer gemeinsamen, schwierigen Vergangenheit entspringt und welches einer ebenfalls schwierigen Zukunft entgegenblickt. Die vergangene Liebe, die Art probiert zu neuem Leben zu bringen, und die düsteren Aussichten für die kommende Zeit, die keinen ruhigen Lebensabend, sondern viel Entbehrungen verspricht, begleiten die beiden Protagonisten und verleihen diesem Buch Zeitlosigkeit und Aktualität zugleich.
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