Kindheit: Eine Prägung fürs Leben
Eltern, Familie, Wohnort, Umfeld, entscheidende Faktoren, die das Leben eines Menschen maßgeblich prägen. Ob man als Einzelkind aufwächst und der Mittelpunkt der Familie ist oder ob man sich schon früh zwischen vielen Geschwistern behaupten und um die elterliche Aufmerksamkeit kämpfen muss, wirkt sich nicht selten auf das spätere Verhalten aus. Besonders schwierig wird es dann, wenn man als Kind in ein fremdes Land, eine völlig andere Kultur eintaucht und mit einem Leben konfrontiert wird, das mit dem Leben in der alten Heimat nur wenige Gemeinsamkeiten hat. Erziehungs-, Kleidungs- und Zukunftsvorstellungen der Eltern können dann ziemlich unangenehm für das Kind werden und es zum Außenseiter machen, wenn es immer wieder durch seine Andersartigkeit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerät...
Igor ist sieben, als er mit seinen Eltern von Leningrad zum "Feind" in die USA auswandert. Um nicht direkt durch seinen Namen als Ausländer aufzufallen, bekommt er von seinen Eltern fortan den Namen Gary verpasst, da sich dieser amerikanische Vorname noch am ehesten aus den Buchstaben seines eigenen Namens umformen ließ. Schon bald merkt Gary, der von seinen Eltern aufgrund seiner ständig laufenden Nase entweder "Rotznase" oder durch seine kränkliche Gestalt, sein starkes Asthma und die vielen Ängste, die er mit sich trägt, "Kleiner Versager" genannt wird, dass das Leben in Amerika kein Zuckerschlecken ist. Mit seinem russischen Pelzmantel, den abgetragenen Klamotten aus Kleidersäcken seiner Mitschüler und seinem zunächst schlechten Englisch wird er zur Zielscheibe seiner Mitschüler, was sich auch nicht bessert, als er das erste Schuljahr wiederholen muss. Auch zuhause läuft es nicht viel besser. Die Eltern leben ihre Schwierigkeiten in Amerika in ständigen Streitereien aus, die anfangs durch Geldprobleme und die Enttäuschungen über ihren Kleinen Versager verstärkt werden. Als Gary dann nicht die erwartete Juristen Laufbahn einschlägt sondern Schriftsteller wird, ist die Begeisterung dementsprechend groß.
Gary Shteyngart wurde 1972 als Sohn jüdischer Eltern in Leningrad (St. Petersburg) geboren und emigrierte im Alter von sieben Jahren in die USA. Er veröffentlichte die Romane Handbuch für den russischen Debütanten, ausgezeichnet u.a. mit dem National Jewish Book Award for Fiction, Snack Daddys abenteuerliche Reise und Super Sad True Love Story dieser dritte Roman wurde in mehr als vierzig Sprachen übersetzt. Gary Shteyngart lebt in New York.
In seinem autobiografischen Roman erzählt Gary Shteyngart seine Geschichte. Beginnend mit seiner Geburt berichtet er von seinem russischen Kleinkindleben in Leningrad, welches vor allem durch Atemnot, unwirksame Behandlungen wie Schröpfen (der Schleim sollte so aus der Lunge gezogen werden) und seine ersten schriftstellerischen Versuche unter den Augen seiner Großmutter, die ihn für seine Sätze mit Käsewürfeln belohnte, geprägt waren. Als sein Vater die Ausreisegenehmigung bekam (die Sowjetunion benötigte Getreide, welches sie im Austausch für Ingenieure erhielt), ging es über Österreich und Italien schließlich nach New York, wo er von nun an die jüdische Schule besuchte. Voller Selbstironie und mit viel Humor erzählt der Autor, wie es ihm dort ergeht, wie er von den anderen Schülern gesehen wird und wie sich sein Leben zwischen russischer Tradition und amerikanischer Moderne gestaltet. Denn seine Eltern sind nicht nur strenge Gegner des Fernsehers, sondern halten auch nichts von amerikanischem Essen, sodass es zuhause weiterhin vor allem Buchweizen und Hüttenkäse mit Dosenpfirsichen gibt. Zum Glück gibt es da noch seine Großmutter, die immerhin kulinarisch weiß, wie sie die Bedürfnisse ihres Enkels stillen kann:
"Bei Großmutter ist das Leben anders. Während ich mich wie ein Pascha auf dem Diwan aale, werden mir eilig drei Hamburger mit Krautsalat, Senf und einem Furz Ketchup serviert. Mit zitternden Händen schlinge ich sie hinunter, während Großmutters Kopf schildkrötenartig hinter der Küchentür hervorlugt, die Augen von nervöser Unruhe geweitet. [...] Nach drei Stunden Fernsehen und Essen bin ich augenscheinlich so amerikanisch wie alle anderen auch. In der Küche bereitet meine Großmutter noch mehr Essen für die Enkelfütterung am kommenden Tag vor, und ich frage mich, wie es möglich ist, dass ich sie so sehr liebe, bloß weil sie mir gegeben hat, was alle anderen mir verweigert haben."
Gary Shteyngart zeigt mit seinem Roman einmal mehr, dass er kein Kleiner Versager geblieben ist, wie seine Eltern ihn liebevoll, aber dennoch prägend, immer betitelt haben. Der Autor versteht es, seine Worte mit Gefühlen zu füllen, er nimmt sich selbst aufs Korn und macht auch vor seiner Familie keinen Halt, wobei Respekt und Liebe jedoch nicht verloren gehen. Ein gelungener Roman!
Deine Meinung zu »Kleiner Versager«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!