Im Schatten des Vulkans
Wohl jeder hat noch den unaussprechlichen Namen des isländischen Vulkans im Kopf, der seinerzeit den Flugverkehr über Europa zum Erliegen brachte: Eyjafjallajökull. Egal, wie wichtig ein Termin vorher war, wie dringend eine Abreise. Wer auf das Flugzeug angewiesen war, musste warten. Warten, dass sich die Asche über Europa wieder lichtet und der Luftraum freigegeben wird. Besonders stark beeinträchtigt war der Londoner Flughafen Heathrow, der normalerweise eine der wichtigsten Drehscheiben des europäischen Flugverkehrs ist. Ohne Aussicht auf baldige Entwarnung saßen dort zehntausende Passagiere fest. Der normale Alltag kam zum Erliegen. Eine nervenaufreibende Zeit, die in einer sonst so hektischen Stadt auch ganz neue Erfahrungen ermöglichte.
Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull legt den europäischen Luftverkehr lahm. Zehntausende Passagiere können nicht abheben und sitzen fest. Obwohl über Europa eine große Aschewolke hängt, lädt blauer Himmel über London zum Spaziergang an der Themse ein. So beschließt auch die Erzählerin des Romans sich auf den Weg zu machen. Auf der London Bridge begegnet sie dabei Jonathan, einem jungen Mann, der ihr zunächst wegen eines großen Feuermals im Gesicht unheimlich ist. Jonathan verkauft Obdachlosenzeitungen, in erster Linie ist er jedoch ein talentierter Erzähler, der nur zu gern von seiner Flucht von der Südküste England nach London berichtet. Aus dem zufälligen Treffen folgen tägliche Begegnungen, bei denen sie sich gegenseitig ihre Geschichten und Geheimnisse ihre Vergangenheit erzählen, sich öffnen und Vertrauen aufbringen müssen. Eines Tages verschwindet Jonathan und die Flugzeuge fliegen wieder. Scheinbar hat sich nichts verändert, doch für die Erzählerin ist nichts mehr, wie es vorher war: Die Suche nach Jonathan wird zu einer Suche nach ihr selbst.
Gertrud Leutenegger, geboren 1948 in Schwyz, veröffentlicht seit 1975 Romane, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke. Für ihre Werke wurde sie vielfach ausgezeichnet. Sie lebte viele Jahre in der italienischen Schweiz und wohnt heute in Zürich.
In Panischer Frühling erzählt Gertrud Leutenegger die Geschichte einer Frau, die sich durch die Erzählungen einer anderen Person selbst immer näher kommt und beginnt, sich mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. In den Geschichten Jonathans über sein früheres Leben kommen Erinnerungen an ihre Kindheit hoch, die so weit weg schien. Gleichzeitig berichtet Leutenegger, welchen Schwierigkeiten Flüchtlinge sowohl früher als auch heute begegnen. Wurden Kinder früher während des Krieges von ihren Eltern getrennt um in Sicherheit aufs Land gebracht zu werden, allein und verlassen als Flüchtlinge, kann auch Jonathan von diversen Schwierigkeiten berichten. Die gemeinsamen Erfahrungen bringen die beiden einander näher und machen sie zu engen Vertrauten. Leutenegger schildert sensibel und einfühlsam, wie sich zwei Menschen näher kommen, mit denen es das Leben zuvor nicht immer gut gemeint hat. Aus der Perspektive der Erzählerin schildert sie deren Gefühle und Gedanken, sodass es nicht schwerfällt in den Roman einzutauchen und ebenfalls gespannt den Erzählungen Jonathans zu folgen. Mit einfachen, aber präzise gewählten Worten liest sich der Text harmonisch. Detailreich schildert die Autorin die Szenen:
"Jonathan hielt inne, und als läse er in meinen Gedanken schloss er, beinahe spöttisch, in Parks gehe er nie. Aber die Bäume, rief ich, diese Bäume, die blühen, als hätte sie jemand in königsblaue Tinte getaucht? Jonathan schob mit den Füßen ganz unbeeindruckt seinen Zeitungspacken zurecht. Ich mag nur Binsen, sagte er, die Binsen vom Themseufer, sie gleichen dem Strandhafer von Cornwall, hinauf gegen Kew gibt es dichte Horste von Binsen. Was für wehrhafte Pflanzen. Wie die stechen können! Besonders in diesen Tagen, da sie blühen, aber haben Sie die inneren Blütenblätter schon einmal angeschaut, die langen Spitzen mit häutigem Öhrchen?"
Alles in allem ist es Gertrud Leutenegger mit ihrem neuesten Roman eine berührende Erzählung gelungen, die einen nicht kalt lässt und zum Nachdenken anregt. Durch viele ungeklärte Fragen am Ende ist Panischer Frühling ein Roman, der auch nach Ende der Lektüre noch im Kopf bleibt.
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