Binewskis - Verfall einer radioaktiven Familie

  • Berlin
  • Erschienen: Januar 2014
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  • New York: Alfred A. Knopf, 1989, Titel: 'Geek Love', Originalsprache
  • Berlin: Berlin, 2014, Seiten: 512, Übersetzt: Monika Schmalz
  • Berlin: Berlin, 2015, Seiten: 512, Übersetzt: Monika Schmalz
Binewskis - Verfall einer radioaktiven Familie
Binewskis - Verfall einer radioaktiven Familie
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Claire Schmartz
801001

Belletristik-Couch Rezension vonApr 2015

Freak Show

Dass der Roman "Geek Love" von Katherine Dunn bisher als unübersetzbar galt, schreibt der Berlin Verlag auf den Klappentext des 25 Jahre alten Werkes – und dennoch hat er es jetzt in den deutschen Sprachraum geschafft. Und dies der Ansicht einiger prominenter Fans nach verdienterweise: Kurt Cobain, Flea von den Red Hot Chili Peppers, Chuck Palahniuk oder Terry Gilliam lobten das Buch der amerikanischen Schriftstellerin und Journalistin.

Binewskis erzählt die verrückte Geschichte einer Zirkusfamilie, vorerst von einem Zirkuspaar, das sich mittels Drogenexperimenten, Insektiziden und sogar radioaktiven Stoffen Kinder zu Freaks heranzüchtet. Der Vater: Zirkusdirektor. Die Mutter: Ein ehemaliger Geek, der lebenden Hühnern vor tausend Zuschauern den Kopf abbiss, mit Haaren wie Zuckerwatte und langen Beinen. Als die beiden sich verlieben und der Zirkus vor einigen finanziellen Schwierigkeiten steht, beschließen die beiden das Unwägbare. Sie wollen Kinder, und zwar Kinder, die alleine durch das, was sie sind, besonders sind. Freaks. Viele Versuche scheitern und landen im hauseigenen Museum, werden in Formaldehyd eingelegt und ausgestellt. Doch andere Versuche gelingen, und so kommt die Familie der Binewskis zustande.

Die Familie besteht unter anderem aus Arturo, der „Aquaboy", der liebevoll von seiner Familie Arty genannt wird. Er hat Flossen an Händen und Füssen und tritt in einem Wassertank auf. Da gibt es die siamesischen Zwillinge Electra und Iphigenia, die vierhändig Klavier spielen; die Albino-Zwergin Olympia, die buckelig und glatzköpfig zwar durch ihre Gestalt verblüfft, aber eigentlich über keine besonderen Fähigkeiten verfügt: Sie ist Ausruferin und erledigt Haus- und Zirkusarbeiten. Zuletzt gibt es Fortunato, den jüngsten Binewski, er ist normal gewachsen und blondhaarig, aber hat eine besondere Fähigkeit: Er beherrscht Telekinese und kann sich in Lebewesen hineinversetzen oder Gegenstände nur durch seine Gedanken bewegen.

Erzählt wird die Geschichte von Olympia, die sich immer dafür entschuldigt, dass ihre Entstellungen so ordinär seien:

"Meine Mutter und mein Vater haben mich so entworfen. Bei ihren anderen Projekten kam etwas Originelleres heraus."

Der Roman spielt auf zwei Ebenen, einerseits erzählt er rückblickend von den Wanderjahren der Familie Binewski und dem Zirkusleben, andererseits von der Gegenwart der Zwergin Olympia, die von ihrer Familie getrennt lebt.

Die Familienjahre sind geprägt von Arturos Eifersucht und Narzissmus: Ständig versucht er sich von seinen Geschwistern abzuheben und der Beste zu sein, vergleicht anfangs nur die Besucherzahlen, später würde er selbst über Leichen gehen. Sein Ehrgeiz steigert sich nach und nach zum Größenwahn. Arturo gründet eine eigene Sekte, die Arturo-Sekte, und bringt Zirkusbesucher dazu, dem Zirkus hinter herzureisen und um Erlösung zu bitten. Die Erlösung jedoch erlangen sie nur, indem sie sich nach und nach alle Gliedmaßen abnehmen lassen und sich auf einen Torso reduzieren lassen. Mit Manipulation und großartiger Rhetorik überzeugt Arturo die Menschen, dass sie alle genauso wie er etwas Besonderes sein wollen – und dass dies einfach erreicht werden kann, indem man seinen Körper verstümmelt. Aus Normalen werden Freaks, indem sie sich den Körper abnehmen lassen. So kann es natürlich nicht ewig weitergehen, und daraus folgt, dass Olympia Jahre später alleine lebt und einen Job als Sprecherin hat. Der Leser lernt Olympias Tochter kennen, Miranda: Sie lebt in unmittelbarer Nähe zu Olympia und wird beobachtet, weiss jedoch nichts von ihr. Sie ist scheinbar normal und sogar ziemlich gutaussehend, doch auch sie hat eine Besonderheit. Sie hat einen ungefähr dreißig Zentimeter langen, mit Wirbeln durchsetzten Schwanz. Auch Miranda scheint das Showbusiness in ihrem Blut zu haben, obwohl sie in einem Kloster aufwuchs und ihre Familie nicht kennen lernte. Sie tritt in einer Stripshows für besondere Tänzer auf. Dann taucht eine Frau auf, die Miranda anbietet, ihr eine Operation zu bezahlen – um den Schwanz zu entfernen. Und alles wird kompliziert.

Dunn stellt in ihrem Roman Fragen, die in der Gesellschaft diskutiert werden – nach Schönheitsidealen, Normalität, Abweichungen, Abgrenzungen, Fähigkeiten. Was macht uns zu etwas Besonderem? Und wie weit wäre ein jeder bereit, dafür zu gehen? Gerade weil diese Überlegungen so fernab unserer Realität spielen, sei es durch die Darstellung der Figuren, der Orte, der Geschehnisse, gewinnen sie an Stärke. In dem überspitzten Zirkusbild finden sie den richtigen Raum vor, um die Figuren auf den Kopf zu stellen und sie wie in einem Labor extremen Situationen gegenüberzustellen. Der Roman überschlägt sich manchmal, doch vielleicht benötigt es genau diesem Schmerz, dieser Absurdität und Monstrosität, um die Fragen ernst nehmen zu können.

Binewskis - Verfall einer radioaktiven Familie

Katherine Dunn, Berlin

Binewskis - Verfall einer radioaktiven Familie

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