Der Neunte

  • Nischen
  • Erschienen: Januar 2015
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  • Wien: Nischen, 2015, Seiten: 220, Übersetzt: Éva Zádor
  • : Nischen, 2009, Titel: 'A kilencedik', Originalsprache
Der Neunte
Der Neunte
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Claire Schmartz
901001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2015

1968: Eine Kindheit und eine Familie in Ungarn

1968 in Ungarn: Kádárs Kommunisten sind an der Macht und eine zwölfköpfige Familie lebt in bitterer Armut. Ein neunjähriger Junge erzählt in Der Neunte die Geschichte ihres Lebens in dem kleinen Ort in der Nähe von Budapest. Es ist eine gläubige Familie, die jeden Sonntag in die Kirche geht, wo die Mutter Orgel spielt. Doch es ist vor allem eine arme Familie, in der die Kinder sich zu dritt ein Bett teilen müssen, die Entlausung zu einer regelrechten Zeremonie geworden ist und alle mit anpacken müssen, um dem Vater bei seinen Projekten zu helfen: Denn er versucht, mit kleinen Geschäften die Finanzen der Familie im Gleichgewicht zu halten. Dazu beansprucht er allerdings das Kindergeld, und abends nach der Schule müssen alle beim Rosenkranzbinden mithelfen. Die Mutter träumte von einer Karriere als Pianistin – und musste letzten Endes ihr Harmonium aus Geldmangel verkaufen. Sie arbeitet in einer Fabrik, genau wie die älteren Schwestern des Neunten, die aus der Schule genommen wurden, um etwas zu der Familienkasse beizusteuern. Aber auch die kleineren Kinder verdienen noch ein bisschen dazu, indem sie bei Begräbnissen assistieren.

Wie konnte es zu dieser Situation kommen? Der Vater, der ehemalige Offizier, arbeitet bei der Bahn und will sich nicht mit den Kommunisten verbünden. Während die Kádár-Ära viele zu Opportunisten machte, versucht der Vater, sich nicht unterkriegen zu lassen; doch das passiert auf Kosten der Familie, die hungern muss, der es an Kleidung und Heizmaterial fehlt. Er wurde aus der Volksarmee entlassen und versucht nun, seine Machtposition zumindest in der Familie vorzubehalten, er will gebraucht werden und glaubt, dass ohne ihn alles auseinander fiele. Unter seiner Anleitung soll nun endlich ein Haus für die Familie gebaut werden, mit Einzelbetten und Öfen in allen Zimmern, die immer beheizt werden sollen – nicht nur, wenn der Vater gerade da ist.

Es ist eine Geschichte voller Zeremonien, Rituale und erhobenen Gefühlen, wie der allmorgendliche Fußweg der Kinder zur Schule, die Abstecher des Neunten zum Metzger oder in das Café, das Entlausen und das Verglühen der Läuse im Ofen, aber auch das „Fröscheln" auf der Schultoilette in den Pausen.

Ferenc Barnás wurde 1959 in Debrecen in Ungarn geboren. Er studierte Literatur und Ästhetik und unterrichtete Literatur und Ästhetik sowie Musiktheorie. Zwischen 1983 und 2000 war er mehrere Monate als Straßenmusiker in Europa unterwegs und reiste durch die Schweiz, Deutschland, England, Frankreich, Italien und Österreich. Barnás lebt und arbeitet in Budapest. Sein erster Roman erschien 1997, Der Neunte ist sein drittes Werk, und das erste, das ins Deutsche übersetzt wurde. Das Buch feierte seine Premiere auf der Leipziger Buchmesse 2015. Der Roman wurde bereits 2009 zum besten ausländischen Roman durch Three Percent (USA), sowie 2010 für den Internationalen Literaturpreis IMPAC in Dublin nominiert.

Dabei ist der nüchterne Schreibstil zu beachten, der den Leser durch den Alltag des Neunten führt. Die Perspektive bleibt klar und deutlich, auch wenn der Neunte sich manchmal ob seiner Situation oder seiner Kleidung schämt, geht er zielstrebig durchs Leben und lässt sich nicht unterkriegen. Dabei erfährt der Leser direkt, was der Neunte empfindet, sieht, denkt, wie sehr ihn seine Familie geprägt hat, und was er sich erwartet, angesichts der Zukunft im "großen Haus": Es sind die kleinen Beobachtungen und Gefühle, die einem den Neunten so nahe bringen, seine Tapferkeit, dass er nicht daran denkt, zu rebellieren, alles abzulehnen, sondern weitermacht und dabei das Beste aus seiner Situation macht. Das Gefühl dieser Familie, die sich in und auswendig kennt und zusammen hält, die es gemeinsam durchstehen will und dabei ihren Antrieb nicht artikulieren kann – oder muss. Es sind die familiären und religiösen Motive, die die Familie zusammen halten und antreiben. Somit muss nichts Besonderes passieren, damit die Geschichte ihre Schlingen um den Leser und ihn in den Bann des kalten Ungarns legt.

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