Mannigfaltige Anthologie deutsch-israelischer Kurzgeschichten in trügerischer Aufmachung.
Anders als Umschlag und Titel erwarten lässt, verbirgt sich hinter der Anthologie Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen kein leicht-heiteres Kinderbuch, sondern eine Sammlung an spannenden, traurigen, liebevollen und nüchternen Geschichten, die die Beziehung zwischen Deutschland und Israel aus der Sicht der (Nach)nachkriegsgeneration beleuchten. Denn man muss betonen, dass fast alle Geschichten sich in Bezug zum Krieg setzen – wenn auch als (Nach)nachkriegsgeneration im "(Nach-)Nachbarland".
Verschiedene der Kurzgeschichten fokussieren sich auf die von Vorurteilen oder Schuldgefühlen geprägten Beziehungen zwischen zwei Fremden, zwei Menschen aus verschiedenen Familien, Ländern, Religionen. Sie erzählen Affären und Liebesgeschichten zwischen jungen Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen im jeweils anderen Land befinden. Andere wiederum befassen sich mit der räumlichen Distanz, die es zu überwinden gilt, oder der kulturellen Andersartigkeit. Manchmal handeln sie von Körpern, Hautfarben, Kleidung, Stil und Aussehen, Oberflächlichkeit und Vorurteilen. Es gibt auch Geschichten über das Judentum, die Religion, die Religiosität, die Riten, den Glauben. Verschiedene Geschichten blicken zurück auf die Gründung Israels im Kontext einer persönlichen oder der allgemeinen Geschichte, in Parallele zu Briefmarken. Weitere bringen auch Palästina ins Spiel. Der rote Faden scheint gespannt, aber nicht bindend; was auch das Themenspektrum illustriert. Vermissen mag man scharfe Statements zur Politik der beiden Länder oder aktuelle Themen. Die Anthologie will ohne dieselben auskommen und schneidet Autoren und Geschichten zusammen. Vielleicht passt dieser fragmentarische Charakter ganz gut zu den unterschiedlichen Eindrücken, die die Geschichten dem Leser vermitteln.
Dabei steht immer der Blick auf das "Andere" im Fokus, das überraschend fremd erscheint – oftmals finden Israelis und Deutsche nicht zueinander, verfehlen die gegenseitigen Erwartungen oder sind blind, taub und stumm für das Gegenüber. Das verblüfft – sollten sich Israel und Deutschland etwa nicht angenähert haben oder gar sich nicht nah sein? Wie übermächtig ist die Geschichte in Hinsicht auf das Bild, das man sich vom Gegenüber macht, bei den Nachgeborenen? Viele der Geschichten kreisen um den Holocaust, manche nur peripher, andere zentral, verschiedene sehr offen, andere untergründig und dennoch zielstrebig.
In der Anthologie finden sich 19 Erzählungen von Yiftach Aloni, Yiftach Ashkenazy, Yair Asulin, Sarah Blau, Galit Dahan Carlibach, Anat Einhar, Liat Elkayam, Idit Elnathan, Assaf Gavron, Amichai Shalev, Katharina Hacker, Norbert Kron, Marko Martin, Eva Menasse, Rainer Merkel, Albert Ostermaier, Moritz Rinke, Jochen Schmidt und Sarah Stricker. Die Autor_innen wurden zwischen 1955 und 1986 geboren und bieten so ein breites und diverses Spektrum der Sichtweise auf die israelisch-deutsche Beziehung. Und genau darum soll es auch in dem Band gehen: Um Diversität und Differenz, Vielfalt und Unterschiede, Gemeinsamkeiten trotz 50 Jahren, wie der Buchrücken erinnert, diplomatischer Beziehungen zwischen den Ländern.
Hervor stechen einzelne Geschichten wie Katharina Hackers Durch das Eisengitter oder Anat Einhars Eine jüdische Nase, die zeitlos und nahezu kontextfrei, ohne die Übermacht der einen Vergangenheit das Augenmerk auf das gegenwärtige Zusammensein oder Sein legen. In ihrer abgetrennten, aber nicht isolierten Sphäre können diese Geschichten überpersönlicher wirken, weiser. Diese Geschichten können die Vergangenheit tangieren, aber sie ist nicht ihr Sprungbrett – sondern ein Teil des eigenen Selbst, der eigenen Geschichte geworden. Die Geschichten machen mit diesem Kern weiter, nicht wegen diesem Kern; eine interessante Sichtweise einer Generation, die selber nicht direkt beteiligt, aber betroffen ist.
"Ich konnte nicht weinen", sagen sie, "ich habe gar nichts gefühlt". Zieht in Betracht, dass euch das auch passieren kann. Polen ist wie der Groschen im Bewusstsein, der eine Weile braucht, bis er fällt. (...) Als ich das Publikum anstarrte, begriff ich, dass es auch mir passierte – der Groschen fiel nicht. Obwohl ich mich bemühte, dass dieses Berlin alles andere außer nett sein würde." (Sarah Blau, Nett)
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