Eine Chronik: Private Einblicke in die temporäre Orientierungslosigkeit eines Sohnes, der seine Eltern auf einmal nicht mehr so kennt, wie sie waren.
Alain Berenboom schreibt in Mr. Optimist die Geschichte seiner Eltern: des Apothekers Chaims und seiner jungen Frau Rebecca. Erst zehn Jahre nach dem Tod seiner Mutter traut sich Berenboom, die Dokumente im Nachlass durchzusehen – und entdeckt Ungeahntes über das Leben und die Identitäten seiner Eltern, die es als Juden wie durch ein Wunder körperlich unbeschadet durch den Zweiten Weltkrieg geschafft haben. Alain Berenboom, der Sohn, wusste nichts von all diesen Turbulenzen und entdeckt gemeinsam mit dem Leser den roten Faden in den Papieren seiner Mutter.
Chaim, sein Vater, war im frühen zwanzigsten Jahrhundert aus Makow (Polen) nach Belgien gezogen, um dort Pharmazie zu studieren. Er lebte zeitweise mit seinen beiden Schwestern zusammen und widmete sich mehr der Arbeit als anderen Vergnügungen. In seiner Apotheke lernt er die schöne junge Rebecca kennen, mit der er alsbald zusammen zieht. Die beiden wollen so „belgisch" wie möglich leben, legen ihre alten Bräuche und Gewohnheiten ab. Sie lernen die Landessprache, kochen wie es in Belgien typisch ist und interessieren sich für die Kultur und Politik der neuen Wahlheimat. Doch unter deutscher Besatzung ändert sich ihr Status und die beiden müssen unter falschem Namen wegziehen. So entsteht ein Strudel, der die Familie zerschlägt, Spuren verwischt und die einzelnen Mitglieder der großen polnischen Familie, wie Berenboom schreibt, „in Asche auflöst" oder unter neuen Namen in alle Himmelsrichtungen verstreut.
Berenboom, geboren 1947 in Schaerbeek, ist heute an der Freien Universität Brüssel Professor für Urheberrecht. 1990 erschien sein erster Roman, und mit „Mr. Optimist" hat er 2013 den Prix Victor Rossel gewonnen. Leider ist die Übersetzung nicht nahtlos gelungen, was bei einem Roman, der sich auf die Verschiedensprachigkeit einer ganzen Familie beruft und die Sprachdifferenzen als Barriere zu verschiedenen Kulturen liest, sehr schade ist. Die Subtilität der Verschränkung der Übersetzungen von Briefen auf Jiddisch oder Hebräisch oder anderer Quellen wird durch die holprige Satzstellungen in der deutschen Übersetzung gemindert.
Mr. Optimist ist vermutlich Berenbooms persönlichster Roman, da er sich ebenfalls mit der eigenen Person und Identität auseinandersetzt. Indem Berenboom die Wurzellosigkeit seiner Eltern weiter erforscht und vor lauter "was wäre wenn" fast ins Schwelgen gerät, zeigt sich umso mehr, dass auch seine Position aus einer von vielen Optionen entsprungen ist: Alleine dadurch, welche Sprachen seine Eltern ihm (nicht) beibrachten, wo er lebte, wo seine Eltern leben wollten, wie stark die Nähe zum belgischen Lebensstil ihm eingetrichtert wurde. Anhand von wahren Dokumenten versucht Berenboom somit eher als Chronist und Archivar als wie ein Erzähler zu wirken. Er will dem Erfinden und Fantasieren aus dem Weg gehen, nicht schreiben „als ob" und sich nicht in Mutmaßungen über Motivationen und Gefühlslagen ergeben. Er versucht, die Geschichte der Eltern und dabei auch seine eigene Position aufzuarbeiten und freizulegen – wie ein Archäologe, der ohne Zeitzeugen mit den Resten arbeiten muss, die geblieben sind. Das Problem ist, dass der beschriebene Optimismus sich auf ich übertragen hat, und leider bei ihm sowohl als bei seinem Vater oftmals wie Naivität wirken mag – wenn Berenboom z.B. über die belgischen Bürgermeister urteilt, sie hätten sich einfach der Registrierung aller Juden widersetzen können und so die gesamte jüdische Bevölkerung schützen. Ob dies so einfach gelungen wäre, ist fraglich. Die Hilfsbereitschaft gegenüber der Besatzer darf natürlich auch nicht verharmlost werden, aber ein solches Urteil lässt einen beim Lesen schnell innehalten.
Berenboom schwankt in seinem Roman auf der Suche nach den identitätsstiftenden Momenten immer wieder zwischen Religion und Glaube, Familie und Tradition, Herkunft und Heimat, Wohnort und Bräuchen, Sprachen und Möglichkeiten hin und her. Kein Wunder, dass es schwerfällt, sich selber in diesem Chaos an parallel verlaufenden Elementen zu situieren; keines kann ausgegrenzt werden, und doch wird keines voll gelebt. So bleibt er als Archivar zwischen losen Fäden stehen, die er aneinander binden will – und oftmals nicht kann. Denn der Ansatz, neutral zu berichten und nachzuerzählen, erweist sich als sehr schwer, wenn man selber das Produkt des Erzählten ist.
Deine Meinung zu »Monsieur Optimist«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!