Die Katastrophe stellt alles in Frage
Es sind ganz alltägliche und allzu menschliche Probleme, mit denen sich die Protagonistinnen und Protagonisten des Romans Die Flutwelle zunächst auseinander setzen. Da ist beispielsweise der Hubschrauberpilot Vincent Laurin, der sich mit seiner bald Ex-Frau Henny einen erbitterten Scheidungskampf liefert und bald vor dem finanziellen Aus stehen wird. Oder der griesgrämige Barney Lundmark, der sich einen erbitterten Machtkampf mit den zwei Frauen liefert, die in sein Territorium am Staudamm einbrechen. Oder die junge Malerin Lena Sundh, die ausgerechnet den unausstehlichen Laban aus dem Wasser fischen muss. Sie – und alle anderen Menschen, die an diesem Regentag in Nord-Schweden im Gebiet des Stausees des Luve unterwegs sind – wissen zunächst noch nicht, dass sie gleich einer Katastrophe gegenüber stehen werden. Denn der Staudamm kann dem Druck nicht mehr standhalten, hat Risse. In dem Moment, in dem er bricht, verändert er auch das Schicksal all der Menschen, die vorher noch in ihrem bisherigen Leben mit Alltagssorgen beschäftigt waren. Alle kämpfen ums Überleben, viele wachsen über sich selber hinaus, andere verlieren ihre Souveränität und werden zu gnadenlosen Egoisten.
Autor Mikael Niemi stellt die Frage "Was wäre, wenn man selber dieser Katastrophe gegenüber stünde". Da es hier wohl so viele Antworten wie Menschen gibt, trägt er die verschiedenen Schicksale seiner Protagonisten zusammen und lässt jeden aus seiner Perspektive die Katastrophe erleben. Plötzlich wird alles anders im Leben der Charaktere. Sie kämpfen um zu überleben und helfen anderen, den Kampf ums Überleben auszutragen. Soweit also der Plot, der an die großen Katastrophenfilme der 80er Jahre erinnert, wenn er auch etwas ausgefeilter ist. Leider scheint Mikael Niemi jedoch eine Phase zu haben, in der ihm die Rolle der Frauen nicht behagt. Anders als bei seinen männlichen Protagonisten greift er bei den weiblichen Figuren tief in die Kiste der Klischees, macht sie zu hysterischen, zickigen und unreifen Personen, deren Trachten zur Hauptsache dem eigenen Ego gilt. Je weiter das Buch fortschreitet, desto deutlicher wird die Kluft zwischen den Figuren. Das nimmt sehr viel Tempo aus der Geschichte raus und hemmt das Entwicklungspotenzial des Romans.
Mit seinem Einstieg in die Geschichte beweist Mikael Niemi, dass ihm das Erzählen liegt. Er schildert kleine Belanglosigkeiten und persönliche Dramen, lässt die Leser ganz nahe an seine Figuren heran kommen und schafft Sympathien. Dann zeichnet er die Katastrophe selber: Der Riss im Staudamm, das ausströmende Wasser, die Flut. Dies ist der stärkste Teil des ganzen Romans, hier kann Niemi aus dem Vollen schöpfen und den Leser unvermittelt ins Geschehen einbinden. Kaum dass man zu atmen wagt, geschweige denn das Buch aus den Händen legen kann. Doch das Tempo und die Intensität der Erzählung kann Niemi nicht lange halten. Er flacht merklich ab und zeigt schnell Ermüdungserscheinungen. Die Schilderungen verlieren an Überzeugungskraft und so wird der Leser im Verlauf der Geschichte nicht nur stutzig, weil es einige Schilderungen gibt, die doch etwas gewöhnungsbedürftig, wenn nicht gleich markant Realitätsfremd sind. Dass er seinen Helden mitten in der Katastrophe, bei der es ums nackte Überleben geht, eine starke Libido zugesteht, hinterlässt zumindest ein Fragezeichen. Wenn dann auch jemand trotz zertrümmertem Gesicht und damit verbundenen starken Schmerzen überlegt handelt, wird man erstaunt den Kopf schütteln. Hier muss man sich die Frage stellen, ob Niemi in der Lage war, die von ihm ausgearbeiteten Charaktere wirklich in das Katastrophen-Szenario hinein wachsen zu lassen.
Natürlich liegt es in der Natur der Sache, dass die Katastrophe eine gleichbleibende Bedrohung für alle Menschen im Einzugsgebiet darstellt. Dennoch wird mit der Zeit der Romanverlauf etwas schal. Es braucht ab Mitte Buch da und dort etwas Durchstehvermögen, um die Geschichte wirklich zu Ende zu lesen und auf sich wirken zu lassen. Erst recht, wenn die Erwartungen in eine ganz andere Richtung gegangen sind – was wohl vor allem dem verlockenden Klappentext zu verdanken ist. Niemi scheint die Katastrophe zwar beschreiben zu können, er schafft es aber nicht, sich in die Menschen hinein zu versetzen, die mitten in der Katastrophe stehen. So ist ein handwerklich solider Roman entstanden, der aber nach ein paar Höhepunkten vor allem durch Längen auffällt. Schade, hätte Niemi das anfängliche Tempo halten oder gar steigern können, wäre ihm ein wirklich guter Wurf gelungen.
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