36,9°
- Carl Hanser
- Erschienen: Januar 2015
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- München: Carl Hanser, 2015, Seiten: 320, Originalsprache
Obsession zweier unterschiedlicher Männer
Zwei Figuren – verbunden alleine durch eine fatale menschliche und gesellschaftliche Entwicklung des einen – prägen Nora Bossongs Roman 36,9°. Zunächst ist hier der glücklose Wissenschaftler Anton Stöver, der beruflich gescheitert ist und vor einer zerbrochenen Ehe steht. Quasi als Flucht nach vorne beginnt sich Stöver mit einem Dokument zu befassen, das der Kommunist Antonio Gramsci verfasst haben soll. Gramsci, von den Faschisten festgenommen und durch unmenschliche Haftbedingungen gebrochen, hat sein Martyrium festgehalten und an seinen Peinigern vorbei geschmuggelt. Das verschollene Dokument, von dem niemand weiß, ob es aus politischen Gründen verborgen wurde, wird jedoch nur vordergründig zur Hauptsache in Stövers Leben. Denn in Rom begegnet der verunsicherte Wissenschaftler einer jungen Frau, die ihn nicht nur betört, sondern in eine obsessive Liebe stürzt. Dabei erlebt Stöver ähnliches wie damals Antonio Gramsci, der sich in schwierigen und intensiven Liebesbeziehungen verstrickte, die er mit Leidenschaft auslebte.
Nora Bossong hätte einfach einen Roman über Antonio Gramsci schreiben können und wäre ihrem Publikum nichts schuldig geblieben. Sie ist dem Schriftsteller, Journalist und Politiker aus dem 20. Jahrhundert sehr nahe gekommen, hat seine Gedankenwelt aufgegriffen und ihm ein Gesicht gegeben. Damit hätte sie durchaus ein Werk geschaffen, das Beachtung verdiente. Doch die Autorin hat sich dafür entschieden, der historischen Figur eine fiktive zur Seite zu stellen. Eine, die in ihrer Gegensätzlichkeit und dennoch Ähnlichkeit in einzelnen Belangen dem Roman eine spezielle Richtung gibt. Denn Stövers teils linkisches Verhalten wird umso offenbarer neben Gramscis Überlebenskampf. Nora Bossong verzichtet jedoch darauf, ihre beiden Protagonisten gegen einander auszuspielen. Vielmehr lässt sie die Stärken und Schwächen der Beiden auf das Gesamtbild wirken und erzählt alleine schon mit dieser zwar verknüpften aber doch so unterschiedlichen Situation eine eigene Geschichte.
Die 320 Seiten des Romans lesen sich mit müheloser Leichtigkeit, obwohl sie gehaltvoll und oft von einer drückenden Direktheit sind. Dank der Fähigkeit der Autorin, die Sprache nicht nur als Mittel einzusetzen, um eine Geschichte zu erzählen, sondern als Stilmittel, um der Geschichte Leben einzuhauchen, wirken die Szenen lange nach. Wer bis dahin nichts über den Mitbegründer der kommunistischen Partei in Italien wusste, wird nach der Lektüre dieses Romans unweigerlich nachforschen, wer Gramsci wirklich war. Der Gegensatz zum oft etwas verloren wirkenden und doch in seiner ganzen Art egoistischen und zuweilen rücksichtslosen Anton Stöver gibt dem Roman eine besondere Note. Die beiden Männer stehen für zwei Welten, die an sich überhaupt nichts gemein haben. Die Verknüpfung ist so banal wie effektiv. Die beiden Geschichten befruchten sich gegenseitig, lassen immer wieder neue Aspekte zu und rütteln auf. Dass sie einen solch nachhaltigen Eindruck hinterlassen, ist jedoch auch auf den pointierten, manchmal poetischen, manchmal leicht amüsierten Ton zurückzuführen, den Nora Bossong einfließen lässt. Sie machte ihren Roman damit zu einem besonderen Lesestück. Einem, das man kaum aus den Händen legen mag, obwohl es nicht immer leicht ist, sich den beschriebenen Realitäten zu stellen.
Nora Bossong hat ein Werk geschaffen, das alles vereint, was man sich wünscht: Sie greift historische Fakten auf, stellt sie in Kontext zur aktuellen Zeit und schafft dadurch ein Spannungsfeld, das fasziniert und unterhält.
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