Niemand ist eine Insel
Fiona Maye ist Richterin am High Court in London. Die 59-jährige, angesehen wegen ihrer Gründlichkeit und des hohen Anspruchs an sich selbst, hat als Spezialgebiete Scheidungsrecht, Sorgerecht, Unterhaltsrecht und Fragen des Kindeswohls. Ein Fall hat sie zu einer Berühmtheit gemacht, der der siamesischen Zwillinge Mark und Matthew. Der eine konnte ohne den anderen nicht überleben, zusammen aber würden beide sterben. Mit ihrem Mann Jack, einem Geschichtsprofessor, ist sie seit über dreißig Jahren in glücklicher Ehe verheiratet. Die eigene Karriere und das tiefe Interesse an der Juristerei waren für Fiona immer größer als der Kinderwunsch. Die häufigen Besuche von Neffen und Nichten am Gray's Inn Square sind kleine Kompensationen für ihre Kinderlosigkeit. Eines Tages unterbreitet Jack ihr einen empörenden Vorschlag. Er will ihre offizielle Zustimmung für eine außereheliche Affäre. Seine Auserwählte ist eine Statistikern von der Uni, die 28-jährige Melanie. Seine banale Erklärung: Torschlusspanik. Fiona ist wütend, enttäuscht, aber vor allem geschockt über das egoistische Verhalten ihres Mannes, dessen menschliche Merkmale stets Güte und Loyalität waren.
Gleichzeitig muss Fiona über den Eilantrag einer Klinik entscheiden: der siebzehnjährige Adam Henry leidet an Leukämie und wird in der Klinik mit einer Chemotherapie behandelt, wodurch sich seine Blutwerte lebensbedrohlich verschlechtert haben. Adam und seine Eltern lehnen eine wahrscheinlich das Leben rettende Bluttransfusion aus religiösen Gründen ab – sie sind Zeugen Jehovas. Fiona bleibt nur ein einziger Tag für ihr Urteil, denn am nächsten Tag könnte es für Adam zu spät sein. Sie besucht Adam auf der Intensivstation und begegnet einem intelligenten, sensiblen und lebenslustigen Teenager, der wie sie Musik und Poesie liebt.
Der Trost von Richtern und Kindern
Kindeswohl ist kein trockener Roman, der mit Kenntnissen über Recht und Gesetz glänzen will, sondern ein im Juristenmilieu spielendes menschliches Drama, facettenreich und tiefgründig. McEwan hat sich Sachkenntnis verschafft über juristische Details und die Arbeit eines Richters am High Court, inspiriert wurde er durch reale Fälle und Urteile. Die Geschichte und die Figuren sind jedoch frei erfunden.
Erzählt wird aus dem Leben einer intelligenten Frau, die von ihrem Mann, den Kollegen und der Familie geliebt, geschätzt und verehrt wird. Sie liebt ihren Mann, hält ihren Assistenten auf gebotene Distanz, lacht über Juristenwitze und ist diplomatisch im Umgang mit schwierigen Kollegen. Ihrer Arbeit, die sie tagtäglich mit menschlichen Schwächen konfrontiert, geht sie mit professioneller Souveränität nach. Motiviert wird sie nicht von dem Drang, Macht über andere Menschen auszuüben, Richtschnur ihres Handelns ist das Kindeswohl, wie es das britische Gesetz im Children Act vorsieht. Doch was das Beste für ein Kind ist, diese Frage ist nicht immer einfach zu beantworten, wie der Fall der siamesischen Zwillinge oder der der Bernsteins zeigt, charedischen Gläubigen.
Bei ihrem Urteil versucht sie das Gesetz in Einklang mit Grundsätzen der Vernunft und Ethik durchzusetzen, sich berufend auf berühmte Urteile ihrer Vorgänger sowie philosophische Vorstellungen von Francis Bacon, Adam Smith oder John Stuart Mill. Auch der Fall Adam ist kompliziert und Fiona macht es sich nicht leicht, arbeitet sorgfältig und konzentriert, trotz zeitlichen Drucks und ihres Eheproblems, und kommt zu einem salomonischen Urteil. Dass sie aus dem Gleichgewicht ist, merkt sie erst, als sie sich zu einem spontanen Vorschlag hinreißen lässt, der später zu einer spontanen Handlung mit fatalen Konsequenzen führt. McEwan schreibt ihr als Paradefall den der siamesischen Zwillinge zu, ein schönes Bild für die Beziehung, die sich zwischen Fiona und Adam entwickelt. Fiona, abgelenkt von häuslichen Problemen, merkt zwar, dass etwas nicht stimmt, realisiert aber die Tragweite nicht.
Jacks Vorschlag setzt eine Dynamik in Gang, die Fiona in eine schwere Krise stürzt und am Ende einen Menschen das Leben kostet. Handlungen und Entscheidungen wirken auf andere Menschen, deren Verhalten wiederum auf andere wirkt, etc., es entstehen Bindungen durch kurze Momente, die langfristige Folgen haben. Es entstehen Kausalketten, komplexe Zusammenhänge und multiple Perspektiven, die sich nicht nur in Fionas Gerichtssaal zu menschlichen Dramen verdichten.
McEwan schildert feinfühlig und tiefgründig, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Es geht um Liebe und Verrat, Enttäuschung, Missverständnisse und Reue und um das Unvorhersehbare, das vor allem deshalb eine tragische Dimension annimmt, weil Menschen darin verstrickt sind, die loyal und gütig sind. Sie wollen das Gute und erreichen das Schlechte. Sie suchen Halt und Trost, in der Musik, der Poesie, beim Partner und manchmal auch bei Fremden.
Kindeswohl ist ein tragisches Drama von eleganter Prosa, scharfer Intelligenz und ausgefeilter Erzähltechnik, das sich ernsthaft, feinfühlig und wissensreich dem Multilateralismus von Beziehungen verschreibt. Eine anfänglich in ihrer Alltäglichkeit banale Geschichte, die sich zu einem großen Drama auswächst.
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