Ungeduld des Herzens
Die Schwäche, im edlen Gefühl verborgen
Eine Garnisonsstadt im Grenzgebiet von Österreich und Ungarn vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Der 25 Jahre alte Leutnant Anton Hofmiller folgt einer Einladung des wohlhabenden ungarischen Magnaten Lajos von Kekesfalva auf dessen Schloss. Er bittet die siebzehnjährige Edith von Kekesfalva zum Tanz. Ein peinlicher Fehler, ist Edith doch gelähmt. Sein schlechtes Gewissen veranlasst ihn, Edith häufig zu besuchen. Das Mädchen verliebt sich in ihn, der diese Zuneigung nicht erwidert, allenfalls freundschaftliche Gefühle hegt. Aus Mitleid und weil ihre Gefühle ihm schmeicheln, lässt er sich auf eine Verlobung ein. Gegenüber seinen Kameraden leugnet er die Beziehung.
Leidenschaft und gestaltete Gefühlswelt
Stefan Zweigs einziger (vollendeter) Roman erzählt von zwei Menschen, die eine Verbindung eingehen, in welcher die Frau leidenschaftlich liebt und der Mann seine Gefühle für sie aus Umgebungsbedingungen ableitet. Ein gesellschaftlicher Fauxpas, das sehr schlechte Gewissen eines sentimentalen und pflichtbewussten jungen Mannes, der Reiz und die Vorzüge der gesellschaftlich gehobenen Umgebung, die Einflussnahme des sozialen Umfeldes, besonders Ediths Arztes Dr. Condor auf Anton, ein unbekannter Pfad, den man unter vielfältiger Beobachtung beschreitet. Und über all dem Mitleid, das eine enorme Schädigungswirkung entfaltet. Auf Antons Psyche wirkt es positiv, sich um Edith zu kümmern und ihre Dankbarkeit – sowie die ihres Vaters - zu erleben. Der aus dieser Interaktion erwachsende Nutzen, die Befriedigung seiner Eitelkeit und nicht zuletzt seine Schwäche, veranlassen Anton, die Beziehung zu intensivieren und sich sogar auf eine Verlobung einzulassen, die er als nicht gewollt bezeichnet und in deren Anfangsmomenten er sich mit einem Gott gleichsetzt.
Zweig setzt tatsächliches Mitleid ab gegen sentimentales, das nur den angeblich Mitleidenden kennt, für den die leidende Person lediglich Instrument ist. Er beschreibt Mitleid als ein zutiefst zweischneidiges Gefühl. Zu Beginn sucht Anton sich allein aus der misslichen Lage zu befreien, indem er Mitleid vortäuscht. Das Bitten der Familie Ediths trägt bei zu Antons Selbsterhöhung, die er so weit treibt, dass sie in eine ungewollte Verlobung mündet, welche er folgerichtig außerhalb ihres engen Ortes verneint. Seines Versagens und seiner Feigheit wird er sich irgendwann bewusst. Er zieht Konsequenzen daraus.
Die Handlung des Romans spielt am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Erzählt wird sie jedoch von Anton als Erinnerung am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Anton ist in der Zeit dazwischen zum Offizier mit Kriegserfahrung geworden, zum nationalen Helden, der den höchsten österreichischen Orden trägt, allerdings nicht ohne Ablehnung, wenn nicht gar Verachtung. Er erzählt die Geschichte einem Mann, der als erster auftretender Erzähler fungiert und uns in die Lebensbeichte einführt. Wir erfahren, dass der große Mut, für den Anton ausgezeichnet wurde, die Konsequenz einer zutiefst feigen Handlung gewesen ist.
Edith ist ein sehr emotionaler Mensch, neigt zu Gefühlswallungen und –ausbrüchen. Sie kämpft gegen ihre Krankheit an, entwickelt Selbstbewusstsein. Sie ist rebellisch und fordernd, nimmt analytische Einschätzungen ihrer jeweiligen Lage vor und geht offensiv um mit Lügen und Verharmlosungsversuchen in ihrem Umfeld. Sie erlebt Phasen emotionaler Achterbahnfahrten mit Stürzen aus erheblicher Glückshöhe in die Depression, in denen es nicht Tag und nicht Nacht, nur Verzweiflung gibt.
Edith wird als komplexe Figur beschrieben, wobei sich Zweig auch Perspektiven der Menschen ihrer Umgebung bedient. Antons Leben ist grundsätzlich vorgezeichnet und materiell abgesichert. Es verändert sich jedoch, als er auf die Familie Kekesfalva trifft. Mit Fortschreiten der Einlassung auf Edith und ihre Familie versucht Anton eine Existenz auf zwei Ebenen zu gestalten, deren Berührungspunkte er zu minimieren trachtet. Bis hinein in seine Beziehung zu Edith genügt Anton den gesellschaftlichen Anforderungen, die bestimmt sind durch den familiären und militärischen Kodex sowie soziale Konventionen. Kekesfalva ist Repräsentant des im Verschwinden begriffenen Österreichs. Edith kann nicht sein Erbe übernehmen, und Anton, auf den die Familie Kekesfalva hofft, wird dies auch nicht können.
Zweig bettet seine psychologische Geschichte in eine historisch-gesellschaftliche Skizze, die die Donaumonarchie als Welt im Untergang beschreibt und nicht frei ist von Nostalgie. Das Kaiserreich wird gedacht als ein Konstrukt, welches einerseits strengen Regeln unterworfen ist, andererseits sich auf friedliche Weise europäisch zu dimensionieren sucht, nicht zuletzt als ein Raum, in dem Österreicher, Ungarn, Kroaten und Serbokroaten koexistieren.
Zweig offenbart langsam und nachvollziehbar die komplexe Psychologie seiner Charaktere, die, auch durch das Bedürfnis, anderen Menschen zu gefallen und bewundert zu werden, stark beschädigt werden, durch Lügen und Verschweigen, ungewollt erzeugte oder missverstandene Situationen. Ungeduld des Herzens argumentiert mit Freud und wird bisweilen zum Melodrama.
Insoweit es für seinen Roman und das Verständnis seiner Figuren wichtig ist, differenziert Zweig Begriffe sehr stark. So entwickelt er verschiedene Formen von Mitleid, wo andere Menschen eher über diffuse Vorstellungen verfügen. Auch das macht den Wert seines Romans aus.
Stefan Zweig erzählt in Ungeduld des Herzens von einem jungen österreichischen Kavallerieoffizier, der sich mit einem Millionär und dessen Familie anfreundet und sich mit furchtbaren Folgen auf eine tragische Beziehung mit der gelähmten Tochter einlässt. Zweig zeigt minutiös, wie der menschliche Verstand sich mitunter auf irritierenden Pfaden bewegt, und er folgt ihm dabei mit einem Skalpell.
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