Telluria
- Kiepenheuer & Witsch
- Erschienen: Januar 2015
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- -: -, 2013, Titel: '-', Originalsprache
- Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2015, Seiten: 416
Großartig bunt und wild, ein stilistisches Feuerwerk
Es ist alles da! Literatur als Vielzahl der Mittel, Stile und Wege, Stimmen und Echos, sie ist enthalten in Telluria, dem überwältigenden Werk des russischen Erfolgsautor Vladimir Sorokin. Selten wagt ein Schriftsteller sich so weit, handelt entgegen der Konventionen und etablierten Modelle. Wie wenige vor ihm hat der Autor ein Buch verfasst über große Themen, die sowohl von zeitloser Bedeutung als auch von bedrückender Aktualität sind und sich dem Leser in einer geradezu verwirrenden Mannigfaltigkeit präsentieren. Herrschaft, Politik und Religion sind die Elemente der Gestaltung der Welt in Telluria, ihr Antrieb ist die Droge Tellur, eine Substanz zur Erlangung all dessen, was sich die Menschen wünschen und erhoffen von Drogen.
Die nicht allzu ferne Zukunft wird im Buch beschrieben, Europa und Asien haben schwerwiegende Veränderungen erlebt, die bekannten politischen Gebilde sind zerbrochen und eine neue Ordnung herrscht. Die großen Nationalstaaten und Imperien sind zerfallen, Russland und die EU passé. An ihre Stelle tritt eine Vielzahl kleiner Staaten, die wieder ein menschliches Maß haben und ihre Bürger nicht erdrücken wie einst die machthungrigen, expandierenden Reiche. Positiv ist diese Entwicklung, bringt sie doch Herrscher und Beherrschte wieder näher zusammen, macht aus Staatsoberhäuptern Personen und nicht Gottähnliche. Die Entfremdung zwischen den sozialen Klassen scheint überwunden. Politischer und menschlicher Fortschritt auf den ersten Blick. Doch stellt die neue Welt kein Paradies dar, bekannte Probleme wie Korruption und Unterdrückung existieren weiterhin - in manchen Gebieten lebt man freier und unbeschwerter als in anderen. Hinzu kommen Zwistigkeiten zwischen den kleinen Staaten und das Erbe einer gemeinsamen Niederlage. Vor der im Buch beschriebenen Zeit fielen radikale Islamisten ein und eroberten große Teile Europas, ähnlich dem Mongolensturm im 13. Jahrhundert. Sie knechteten das christliche Abendland und herrschten mit Strenge. Die Reconquista Europas dauert an, mehrfach liest man von anhaltenden oder bevorstehenden Kämpfen. Die Neuordnung als historisches Ereignis, der Fortschritt als glückliches Resultat.
Politische Fragen werden mehrfach behandelt, in historischen Rückblicken, in Klagen über alte und neue Staaten, in Darstellungen von Regierenden, doch ist das Buch nur bedingt politisch, da es sich nicht zur Utopie oder finalen Lobpreisung verleiten lässt. Einzig die Abneigung gegen große Staatengebilde zieht sich durch die Kapitel und kulminiert in drei Büsten russischer Führer – der mit dem Spitzbart, der mit dem Fleck auf der Glatze, der mit dem kleinen Kinn – mit Heldenstatus. Diese drei besiegten das unmenschliche Riesenreich Russland und brachten den Menschen ein besseres Leben - man fühlt sich an epische Helden aus der Antike erinnert, muss amüsiert-schockiert innehalten ob der Verherrlichung des dritten Helden, der fester Bestandteil unserer Welt und Nachrichten ist und sich über die Büste in Telluria wenig erfreut zeigen dürfte.
Tellur ist ein chemisches Element, sein Symbol ist Te und seine Ordnungszahl 52, im Buch ist es jedoch viel mehr: es ist die Droge schlechthin, das, wonach sich alle sehnen. Tellur macht euphorisch, schärft den Geist, verleiht Kraft und gibt Freude, ohne Nachwirkungen, ohne Beeinträchtigungen. Jedermann, der es konsumieren kann, konsumiert es. Nur zwei Probleme gibt es: Tellur ist teuer und die Anwendung kann tödlich sein. Die Droge wird nicht auf harmlose Weise zu sich genommen, nicht geraucht oder gespritzt, sondern in Form eines Nagels in den Schädel geschlagen. Dabei kann es zu Komplikationen kommen, die zum Tod des Konsumenten führen, weshalb kleine Zimmermänner die heikle Aufgabe erfüllen, die Tellurnägel mit Geschick und Wissen in den Schädel zu schlagen. Meistens gibt es keine Probleme, die Kunden sind mehr als zufrieden, manchmal geschieht jedoch ein Unglück und der Nagel dringt unglücklich in den Kopf ein, der erwartungsvolle Kunde stirbt und der kleine Zimmermann muss alles verbrennen. Tellur ist illegal, die Zimmermannsgilde agiert im Geheimen, auch wenn sie aller Welt bekannt ist. Einfache Leute sparen jahrelang Geld, um sich einen Nagel leisten zu können, Staatsoberhäupter und andere hohe Funktionäre gönnen sich die Nägel täglich. An Tellur gibt es keinen Zweifel, es ist die Erfüllung der Sehnsucht.
Während die politisch-religiösen Anstrengungen zu Krieg und Elend führen, schlechte und weniger schlechte Macht- und Organisationsstrukturen hervorbringen, ist Tellur das Paradies auf Erden, es verschafft Glück und erfüllt Träume. Dafür riskiert man sein Leben, so gut ist es. Die Reichen haben ständig einen Nagel im Kopf, die Armen sehnen sich danach. Am tellurischen Glück zweifelt niemand, an der sich ändernden Ordnung der Welt schon. Als Individuum kann man den idealen Zustand erreichen, nicht aber im Kollektiv, sagt der Tellurnagel.
Droge und Macht sind die beiden Konstanten in diesem Buch, die einzigen Konstanten. Stilistisch und inhaltlich handelt es sich um ein Feuerwerk sondergleichen, der Leser wird beständig herausgefordert. Die 50 Kapitel sind nicht miteinander verbunden, vielmehr kreisen sie um die beiden konstanten Themen, dabei werden Handlungsorte und Charaktere bei jedem Kapitel gewechselt und auch das Mittel der Darstellung. Kleine Erzählungen reihen sich an Lobeshymnen, an Theaterdialoge, an Gedankenströme, an Komödien und Tragödien. Nach Beendigung eines Kapitels sollte der Leser sich einen Moment gönnen, vielleicht zum Samowar gehen und sich noch einen Tee einschenken, für ein paar Minuten verträumt aus dem Fenster schauen oder eine Reihe Dehnübungen machen, bevor er das nächste Kapitel in Angriff nimmt. Die Wechsel sind abrupt und allumfassend, als rufe der Wächter der Langeweile "Alles muss raus" und Sorokin folgt der Aufforderung wieder und wieder. Selten hat man ein so kurzweiliges und zugleich interessantes Buch in den Händen gehabt, diese Stil übergreifende Geschichtensammlung aus der tellurischen Zukunft kann man nur wärmstens empfehlen.
Vladimir Sorokin, Kiepenheuer & Witsch
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