Der Tag, an dem ich fliegen lernte

  • Argon
  • Erschienen: Januar 2014
  • 1
  • Berlin: Argon, 2014, Seiten: 6, Übersetzt: Anna Thalbach, Bemerkung: autorisierte Lesefassung
Der Tag, an dem ich fliegen lernte
Der Tag, an dem ich fliegen lernte
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Rita Dell'Agnese
851001

Belletristik-Couch Rezension vonAug 2015

Auf der Suche nach der Mutter

Lulu ist ein glückliches Kind. Sie wächst in einer unkonventionellen WG in München auf, geliebt nicht nur von ihrem Vater Paul, sondern auch von den Mitbewohnern Fergus und Max. Sogar die etwas seltsame Irene scheint Luisa, alias Lulu, gewogen, wenn auch nicht ganz so stark, wie ihre WG-Genossen. So fällt es Lulu zunächst gar nicht auf, dass etwas Entscheidendes in ihrem Leben fehlt: Die Mutter. Erst als Lulu zur Schule geht, erfährt sie, dass ihre Mutter Aza sie nach der Geburt aus dem Fenster im Krankenhaus geworfen hat und sie, Lulu, nur überlebt hat, weil der ehemalige Footballer Fergus des Weges kam und das Bündel auffing, bevor es auf den Boden krachte. Sie erfährt auch, dass Aza gleich nach diesem ungeheuerlichen Moment abgetaucht ist und nie wieder etwas von sich hören ließ. Doch anders, als bis jetzt vermutet, hat Aza über Irene eine Anschrift hinterlassen. Irene, die auf die Beziehung zwischen Aza und Paul eifersüchtig war, hat dies jedoch nie erzählt. Nachdem die ganze Wahrheit auf den Tisch gekommen ist, will Paul zusammen mit seiner Tochter Lulu Aza in ihrer brasilianischen Heimat suchen gehen. Dafür lässt er sich als Referendar an eine brasilianische Schule verpflichten. Im Land ihrer Vorfahren angekommen, machen sich Lulu, Paul und der zu den beiden Freunden gestoßene Fergus auf die Suche nach Aza. Für Lulu geht es dabei um die Frage, ob sie tatsächlich auch eine Mutter hat, wie alle die anderen Kinder in der Schule.

Autorin Stefanie Kremser stellt den Konflikt zwischen den Menschen mit ganz unterschiedlicher Mentalität hervorragend dar. Nach und nach schält sich heraus, wie stark die junge Brasilianerin unter den Verhältnissen im kühlen München gelitten haben muss. Während sich Paul diesen Erkenntnissen nach wie vor zu verschließen versucht, erkennt die aufgeschlossene Lulu das Dilemma fast sofort. Dennoch will Lulu die für sie zentralste Frage klären: Wieso hat ihre Mutter nie nach ihr, der Tochter gefragt. Auf der Suche nach der Mutter findet Lulu sich selber. Sie beginnt zu verstehen, was passiert ist. Das ist sehr überzeugend geschildert, die Autorin kann sich gut in die Rolle des neugierigen Kindes hinein versetzen. Sie lässt Lulu den Roman aus ihrer Perspektive erzählen und schafft auf diese Weise viel Nähe.

Überraschend ist der historische Teil, den die Autorin in den Roman hinein bringt. Sie erzählt die Geschichte eines kleinen bayrischen Dorfes, dessen Einwohner nach einer Brandkatastrophe dem Traum von einem besseren Leben in Amerika folgen, dann aber in Brasilien statt den USA landen. Mit einem großen Augenzwinkern erzählt Stefanie Kremser von den rothaarigen Bayern, die im Dschungel von Brasilien landen und dort eine zweite Heimat aufbauen. Die Geschichte von Azas Vorfahren bereichert den in einem süffigen Plauderton erzählten Roman. Bald schon wird das Publikum so neugierig auf die Mutter, die ihr Neugeborenes aus dem Fenster wirft und verschwindet. Erstaunlicherweise schafft es Stefanie Kremser nicht nur, die kleine Lulu ans Herz des Publikums wachsen zu lassen, sondern auch eine Figur wie die unglückliche Aza, die aus nicht nachvollziehbaren Gründen gehandelt hat. Der Wunsch, zu erfahren, weshalb es zu diesem Fenstersturz gekommen ist, hält selbst jene Leser bei der Stange, die sich angesichts des manchmal eher etwas seichten Inhalts längst abgewendet hätten.

Stefanie Kremser verfügt über ein großes Erzähltalent und bringt das auch hervorragend zur Geltung. Alleine deshalb schon mag man mit Paul, Lulu und Fergus auf die große Reise durch Brasilien gehen, auf der Suche nach einer Frau, die für den einen die Liebe seines Lebens war und für die andere eine Mutter ist, nach der sie sich so sehr sehnt. Man mag sich sogar mit dem Ende der Reise abfinden, auch wenn es viele – vor allem die entscheidenden – Fragen offen lässt. Ein bezauberndes Buch ist Der Tag, an dem ich fliegen lernte allemal.

Der Tag, an dem ich fliegen lernte

Stefanie Kremser, Argon

Der Tag, an dem ich fliegen lernte

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