Die gestohlenen Revolution. Reise in mein zerstörtes Syrien
- Nagel & Kimche
- Erschienen: Januar 2015
- 0
- Zürich: Nagel & Kimche, 2015, Titel: 'Originaltitel Bawwabât Ard al Adam', Seiten: 176, Übersetzt: Larissa Bender
Reportage-Roman über den verzweifelten Kampf für ein besseres Dasein
Der arabische Frühling wurde einst als das demokratische Erwachen einer ganzen Region gefeiert und bald darauf vergessen. Schwerwiegende Verwerfungen resultierten aus den Ereignissen, viele neue Konflikte entstanden und veränderten das Leben unzähliger Menschen. Manche Länder bemühen sich heute um das Erbe dieser Revolution, andere haben ihre Machthaber lediglich ausgetauscht und verharren in den alten harschen Strukturen. Nirgends aber hat der arabische Frühling, dieser Versuch der Umwälzung, so schwerwiegende Folgen wie in Syrien gezeitigt. Der Aufstand gegen das Unrechtsregime des Baschar al-Assad war zuerst vielversprechend wie andere, ähnliche Aufstände, sah sich aber bald einem erbitterten Kampf ausgesetzt, der nicht in einem schnellen Sieg der neuen Kräfte gipfeln würde. Verwüstung und Tod gehören nun zum Alltag in diesem Land, aus dem immer mehr Menschen fliehen, in die Nachbarländer und nach Europa.
Samar Yazbek wurde mit ihren Schilderungen aus dem Bürgerkrieg in Syrien bekannt. Die gestohlenen Revolution zeigt nun das Bild der späten Entwicklung des Konflikts, die Veränderungen in den beteiligten Lagern und die neuen Richtungen, in die sich das zerrüttete Land entwickelt. Yazbek ist um Nähe bemüht, sie begnügt sich nicht mit Reportagen aus der Ferne, sondern versucht dem Geschehen und den involvierten Menschen so nah wie möglich zu kommen. Diese Ambition macht sie zu einer außergewöhnlichen Stimme in einem Konflikt, der mittlerweile als gegeben hingenommen wird und immer weniger Beachtung findet. Yazbek vermag aufzurütteln und zu faszinieren, da ihre Darstellungen realistisch und konfrontativ sind.
Die Reihe der Erzählungen ist durch die Besuche des Heimatlandes der Autorin gekennzeichnet. Jeder Besuch erhält ein Kapitel, beginnend mit der Überquerung der türkisch-syrischen Grenze – ein meist anstrengendes und strapaziöses Unternehmen, welches jedoch letztlich nur ein Spiel zwischen Katz und Maus zu sein scheint – und endend mit der erneuten Überquerung der Grenze, in die andere Richtung. Zwischen den beiden Grenzüberschreitungen gibt es viele Autofahrten, die Autorin besichtigt mit Hilfe der Kämpfer der Free Syrian Army verschiedene Städte und Dörfer, die vom Bombenhagel und den Schergen der Regierung heimgesucht wurden. Sie führt Interviews und nimmt an Sitzungen teil, hält die Ohren und Augen offen, um alles zu dokumentieren, was um sie herum passiert und das Geschehen in diesen heillosen Zeiten verständlich machen kann. Sie ist Schriftstellerin und Reporterin in einem. Persönliche Beobachtungen und Gedanken wechseln sich mit den Berichten der Kämpfer und Familien ab.
Bestandsaufnahme betreibt Yazbek zu großen Teilen in ihrem Reportage-Roman, sie dokumentiert das Grauen, die Zerstörung der Städte und der Menschlichkeit. Ihre dabei verwendeten Mittel sind einfach, es sind die Geschichten der Noch-Lebenden, die von den Toten erzählen, vom Sterben unter den Bomben der Luftwaffe oder in den Händen der regierungstreuen Soldaten. Häuser stürzen ein und begraben die Bewohner, Militärfahrzeuge rollen durch die Straßen und nehmen kritische Protestanten mit, auf dass sie nie wieder lebendig gesehen werden. Ganze Familien verschwinden vom Angesicht der Erde, viele mehr müssen fliehen.
Die Islamisierung des Konflikts ist ein auffälliges Merkmal der Beschreibungen. Bei jeder Reise begegnen der Autorin mehr ausländische Männer mit langen Bärten und leeren Augen. Sie schließen sich ISIS oder der al-Nusra-Front an, werden mit guten, modernen Waffen ausgerüstet und kämpfen für einen islamischen Staat. Die Kämpfer der Free Syrian Army hingegen wollen einen säkularen Staat, auch wenn sie gläubige Muslime sind. Es kommt zu Problemen zwischen den verschiedenen Gruppen, die Herrschaftsansprüche der einen überschneiden sich mit den Idealen der Befreiung der anderen. Der Widerstand gegen das Assad-Regime wird vielfältiger und problematischer, da viele unterschiedliche Ziele verfolgt werden. Die einstigen Ideen der Revolution gehen zunehmend unter im Alltag des Krieges und im Geflecht der internationalen und religiösen Interessen der Beteiligten. Immer häufiger müssen sich die Autorin und ihre Begleiter gegenüber den Islamisten ausweisen, müssen sich mitunter verstellen, um keine Probleme zu schaffen.
Die gestohlene Revolution gibt viele Einblicke in die furchtbare Realität des Konfliktes in Syrien, der in unseren Medien nun schon lange präsent ist, aber immer weniger Aufmerksamkeit erfährt, da man sich an ihn gewöhnt hat. Die Berichte der Autorin bringen die menschliche Dimension näher, sie zeigen was sich hinter allgemeinen, sich wiederholenden Ausdrücken verbirgt. Es ist auch eine Erklärung, warum Menschen bereit sind, das ihnen Verbleibende aufs Spiel zu setzen, um in weiter Ferne einen Neuanfang zu versuchen.
Deine Meinung zu »Die gestohlenen Revolution. Reise in mein zerstörtes Syrien«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!