Leben als Abscheulichkeit
Am 22.10.1970 erließ das französische Innenministerium einen Beschluss, in dem für Pierre Guyotats kurz zuvor erschienenen Roman Eden Eden Eden festgelegt wurde: kein Verkauf an Minderjährige, keine Werbung, keine öffentliche Auslage. Französische Intellektuelle reagierten darauf mit einer von Jérôme Lindon, Herausgeber der Reihe Les éditions de minuit, verfassten Petition, die unterzeichnet wurde von, u. a., Roland Barthes, Simone de Beauvoir, Michel Leiris, Jean-Paul Sartre, Claude Simon, Jacques Derrida und Michel Foucault, und in Le Monde veröffentlicht wurde.
Eden Eden Eden beginnt mit einer Folge von Zeichen, die wie eine Kapitelüberschrift vom sich anschließenden Text abgesetzt sind: ein Pluszeichen, vertikale Striche, Punkte, ein Kreis und weitere. Auf Seite 311 erfahren wir, was diese vordergründige Einladung zum Nicht-Lesen bedeutet.
Der Inhalt ist zeitlich dem Kolonialkrieg zwischen Algerien und Frankreich zugewiesen, an dem Guyotat beteiligt war, anfangs als Soldat, dann als Inhaftierter. Zu Beginn denken wir, ein Unbekannter protokolliere seine persönlichen Erlebnisse. Namen gibt es nicht, alles ist eine Melange aus Sex, Vergewaltigungen und Exkrementen. Dann spricht plötzlich jemand in der ersten Person Singular, nur kurz. Namen werden genannt. Wazzag ist ein Jugendlicher Prostituierter. Der Roman begleitet ihn bei seinen sexuellen Aktivitäten, die an Zahl und Form und Intensität zunehmen. Es lässt sich beim Durchschreiten dieser Szenarien, die an Hieronymus Bosch und an Dante erinnern, tatsächlich eine Vorstellung von Handlung entwickeln.
Der Boden für den Inhalt dieses Romans ist ein Gemisch aus Blut, Fäkalien, Erbrochenem und Sperma, darin sich Menschen nahezu ununterscheidbar suhlen und quälen, darin sie zu überleben versuchen und einander töten. Gewalt war die Mutter Amerikas, so sagte es einmal der italienische Regisseur Sergio Leone. Lesen wir Guyotat, bekommen wir das Gefühl, Gewalt sei die Essenz des Lebens, wobei manche Menschen wieder an die Mutter denken und Leone zustimmen mögen.
Entkleidet man den Menschen seiner zweitausend Jahre Kulturgeschichte, wie dies in der Vergangenheit immer mal wieder vorkam und in der Gegenwart noch immer vorkommt und in der Zukunft weiter vorkommen wird, dann zeigt sich vielleicht, was wir bei Guyotat lesen. Die Unterscheidung zwischen dem Objektiven und dem Subjektiven, der Sphäre des Realen und der des Imaginären ist aufgehoben. Subjektivität wird in Guyotats radikaler Erzählweise ausgelöscht, zwar werden Charaktere namentlich genannt, aber deren traditionelle Differenzierung verwischt.
Als Leser wähnt man sich bald in einem Traum, der umso intensiver wird, je weiter die Lektüre fortschreitet. Man ist vielleicht nach zehn, vierzig Seiten entnervt von der Variation der oder Improvisation über die präsentierten Handlungen, möchte den Roman beiseite legen. Oder man hat das Gefühl, immer wieder das Gleiche zu lesen, ohne diesen Traum verlassen zu können. Es ist weniger ein viszeraler Horror, eher einer, der sich langsam in den Blutkreislauf hineinarbeitet und die pulsierende Lektüre eines Textes erzeugt, der ohne Punkte auskommt, gleichsam voranrollt wie eine Collage aus Fragmenten im Nouveau roman.
Eden Eden Eden spiegelt eine Realität, die in ihrer Konsequenz ein Angriff gegen das ist, was den Menschen in religiöser und ethischer Perspektive zum Menschen macht. Das Leben wird auf ein Niveau der Entmenschlichung gebracht, unreflektierte emotionslose Handlungen, grausame Beziehungen, basierend auf Machtausübung. Wer sich auf die Suche nach einer Botschaft begibt, dürfte scheitern. Manche sagen über vergleichbare Situationen, der Mensch werde zum Tier. Aber Tiere sind anders, und das Argument ist nur eine morsche Behelfskonstruktion, und der Mensch kann vielleicht nur so werden, weil er zuvor Nicht-Tier war und in der Transformation zu einer anderen Form von Mensch wird, die immer schon in ihm war.
Guyotats Eden Eden Eden ist geschrieben wie ein Oratorium über den Krieg und sexualisierte Beutezüge. Der Roman reduziert das Leben auf das, was man im Normalfall darüber nicht wissen will. Man liest ihn vermutlich nicht als Unterhaltung. Der Prozess der Lektüre selbst ist eine Erfahrung, vielleicht ein Angriff auf die Leser, die das Buch bis zum Ende durchstehen.
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