Nationale und familiäre Probleme
Auf dem "Cerro de la Chingada" lebt die Familie des Protagonisten, in Lagos de Moreno, im Zentrum Mexikos. Die Eltern und zahlreichen Kinder teilen sich das kleine Haus, welches meistens nur als Schuhkarton bezeichnet wird und den Bewohnern kaum Raum lässt zum Atmen. Es ist eine einfache Konstruktion, die der Vater vor langer Zeit aus dem Boden stampfte, in einer Situation, wie es sie zuhauf gibt in Mexiko - es war die spontane Besetzung eines Stück Bodens, der niemandem gehörte und auf den man sich ein Recht durch Wohnsitz erwerben konnte. Eine durchaus gängige Praxis bei den armen Bevölkerungsschichten. Und arm ist die Familie, da ist sich der Protagonist Orest sicher, auch wenn ihm die Mutter die Mittelschicht einreden will, mit dem Verweis auf noch ärmere Menschen. Glauben will es Orest nicht so recht.
Als die neuen Nachbarn kommen, ändert sich das Leben der Familie. Orest erkennt die eigene Armut im Angesicht des großen, modernen Hauses, welches direkt neben den Schuhkarton gebaut wird und sich architektonisch elegant an den Hügel schmiegt, anstatt sich ängstlich an die Erde zu klammern. Als die Neuen herüberkommen, um sich vorzustellen, setzten sie sich nur auf die Kante des abgenutzten Sofas, um sich nicht dreckig zu machen, und das Selbstbild der Familie im Schuhkarton gerät ins Wanken. Die Nachbarn stammen aus Polen - das liegt im Nirgendwo, stellt der Erzähler fest, denn es ist so weit entfernt von der Realität von Lagos de Moreno, dass es genauso gut auf einem anderen Planeten liegen könnte, es wäre das gleiche. Sie sind wohlhabend, der einzige Sohn besitzt die neusten Spielzeuge, hat schon verschiedene Teile des Landes gesehen und isst nur, wenn er Hunger hat.
In der Familie des Protagonisten werden Quesadillas gegessen, jeden Tag, scheinbar zu jeder Mahlzeit. Sie werden zubereitet, indem Teig aus Maismehl hergestellt, in runde Form gebracht und mit Käse gefüllt wird, um abschließend auf dem Herd erwärmt zu werden, damit der Käse zerläuft und der Teig warm und knusprig wird. Da es viele hungrige Kinder am Tisch gibt, herrscht ein Kampf um die Quesadillas, jeder versucht, so viele wie möglich zu ergattern und essen, egal wie viele er schon hatte. Essen wird zum Reflex. Aufgrund der Armut der Familie und der Armut des Landes, welche täglich im Fernsehen kommentiert und auf den neusten Stand gebracht wird, nehmen die Quesadillas verschiedene Formen an: der Teig wird dünner oder dicker, mit unterschiedlichen Mengen Käse befüllt oder im Notfall mit dem Wort "Käse" beschrieben.
Der Vater ist ein linker Lehrer an einer staatlichen Schule, die Mutter kümmert sich um den Haushalt, die zahlreichen Kinder, und weint die meiste Zeit. Zusammen mit den Kindern müssen sie dem Verfall des Landes und auch der eigenen Stadt zuschauen. Nachdem die Opposition die Wahlen gewonnen hatte, aber nicht ihr Recht bekam, besetzte sie unter anderem das Rathaus von Lagos de Moreno, ganz zur Freude des Vaters, ganz zur Sorge der Mutter.
Quesadillas ist eine nette Erzählung aus dem mexikanischen Alltag, sie stellt viele kleine Details dar und vermittelt ein gutes Gefühl für die Umstände, sowohl familiärer, als auch politischer Natur. Das macht sie ganz nebenbei und mit viel Feingefühl. Die eigentliche Geschichte des Protagonisten und seiner Familie ist leider nicht gleichermaßen überzeugend, wirkt an manchen Stellen zu bemüht. Die absurden Momente des Buches, besonders am Ende, zeigen dann aber noch einmal Humor und erhöhen den Unterhaltungswert, ein wenig spät, vielleicht zu spät und auf Kosten der Dramatik, die doch eigentlich gut und packend war.
Juan Pablo Villalobos, Berenberg
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