Abschied vom Leben
Gregor Lanmeister macht eine Kreuzfahrt. Die Zahl der Passagiere schwankt zwischen 400 und 500, weist jedoch einen Kern von 144 Personen auf, die, einschließlich Lanmeister, sich auf der letzten Reise ihres Lebens befinden und "das Bewusstsein haben". Wir lesen Lanmeisters Aufzeichnungen, die er in eine Kladde schreibt. Sie handeln von seinen Reflektionen und Erinnerungen, seinem Alltag auf dem Traumschiff. Er macht sich Gedanken über das Personal, Mitreisende, die Verpflegung, das Unterhaltungsprogramm, seine Frau und sein Kind, die Scheidung. Während der Reise hat Lanmeister, der nicht mehr spricht, Verbindung zu anderen Personen, darunter: sein Freund Monsieur Bayoun, der ihm ein Mah-Jongg-Spiel geschenkt hat und zu Beginn bereits verstorben ist, die Kellnerin oder Pflegerin Tatiana Bogdanova, Frau Seifert mit ihrem Gehstock, ein Clochard, Joana Gailint, das Ehepaar Tolstoi, Doktor Abdullah Samir, Madame Gellet und Doktor Björnson. Adressatin der Aufzeichnungen ist nicht Lanmeisters Familie, sondern die junge Ukrainerin und Pianistin Kateryna Werschevskaja, die von seinen Gefühlen für sie nichts weiß.
Gleichzeitigkeit von Realität und Fiktion
Erzähler im Traumschiff ist ein Mann, der sich auf einer Kreuzfahrt wähnt. Die Segmente der Aufzeichnungen sind mit Raumkoordinaten überschrieben, deren Zuweisung zu geografischen Orten am Ende des Buches erfolgt. Während der Lektüre begegnen uns Begriffe, die auf eine andere Sphäre als die eines Kreuzfahrtschiffs verweisen, vielleicht auf einen Ort ohne Kabinen und mit Zimmern, der als Traum-Schiff imaginiert wird. Gelegentlich wird es assoziativ, nicht nur auf der sofort sichtbaren Ebene, wenn beispielsweise Manpower als Begriff aus der Arbeitswelt in Lanmeisters Gedanken ohne Umweg auf Manneskraft führt. Synästhetisch verknüpft er mit Worten (Tagesangaben) Farben. Lanmeister hat sprachliche Einfälle wie diese: Erklärungen mit den Augen geben; Gehen, das ein Bleiben ist, und ein Bleiben, das geht; und, besonders schön: aus Notwehr die Wahrheit erkennen.
Im Verlauf seiner Reise lösen sich Strukturen und Zusammenhänge auf, was ihn teils irritiert. Er leidet körperlich, muss Medikamente nehmen. Gelegentlich fühlt er sich auf dem Schiff heimisch, in anderen Momenten fremd. Über das, was vor beziehungsweise hinter ihm liegt, macht er sich Gedanken, wichtiger ist ihm jedoch das Immomentsein, auf das er sich konzentriert, das mit seinem Körper in Aktion korrespondiert wie die Zeit mit der Bewegung. Die Aufzeichnungen geben Hinweise darauf, dass Lanmeister früher ein anderer Mensch gewesen sein könnte, durch die Vergangenheit und Gedanken über die Zukunft bestimmt. Seit ihn dieses wenig bestimmte Bewusstsein (Zustand) erfasst hat, das sich entlang eines Pfades vollendet (Bewegung), ist er im Moment und sehnsüchtig nach Leben und der Verbindung mit anderen Menschen. Gegenwart und Vergangenheit befinden sich dabei im Fluss, wir folgen der Hauptfigur durch Gedankenströme, die weniger an Neurologie denn an Oper erinnern. In der Thematisierung des Lebensendes, das ein sich langsames Verabschieden aus dem Leben ist, ohne dass man sich dessen bewusst sein muss, gewinnt das Leben (noch einmal?) an Kraft.
Lanmeister durchläuft eine Verwandlung in der Zeit, während er eine Reise durch den über Koordinaten präzise definierten Raum unternimmt. Ob der durchfahrene Raum vergangen ist, Erinnerung Lanmeisters an Reisen seines Lebens, ob die Bewegung durch den Raum auf dem Schiff erfolgt oder eine gedankliche ist - sie ist für ihn gegenwärtig.
Utopie vom würdevollen Sterben
Nehmen wir den Titel und den Inhalt wörtlich, handelt Traumschiff von einer "Reisegesellschaft der Sterbenden" (wie Lanmeister einmal schreibt), die eine Kreuzfahrt macht, die zugleich Reise an das Ende des Lebens ist. Dann können wir von einer Utopie über würdevolles Sterben in einer Welt sprechen, in der schon würdevolles Leben ein Problem ist. Herbst deutet Lanmeisters Weg in die Demenz an. Einen Weg, der sich von seinem Endzustand insbesondere dadurch unterscheidet, dass der diesen Weg beschreitende Mensch ihn auf irgendeine Weise bewusst erlebt. Die Beschreibung dieses Weges, eines denkbaren Pfades, gelingt dem Schriftsteller beeindruckend, mit Pathos und ohne Gefühlsduselei.
Alban Nikolai Herbst hat mit Traumschiff einen Roman geschrieben, der sich in sein Gesamtwerk einfügt, so durch Themen, die wiederkehrender Natur sind. Manche sagen, es sei sein zugänglichster Roman. Warum? Ist er am leichtesten zu lesen? Und lässt sich daraus dann ableiten, er sei auch am leichtesten zu verstehen? In einer Rezension ist dies nicht einfach zu klären.
Bereits auf der ersten Textseite werden wir in ein unterliegendes kybernetisches System hineingezogen, während wir die Gedanken der Hauptfigur lesen. Aber ist es tatsächlich ein System, das im Romanverlauf sichtbar wird, oder sind es allein darauf hindeutende Elemente? In binärer Logik gibt es allein zu Beginn des Romans: alte und neue Passagiere, Wissende und Nichtwissende, Menschen, die das Bewusstsein mitgebracht haben oder nicht, die sich am Geländer festhalten oder nicht, die sich ihr Leiden anmerken lassen oder nicht, Ausschiffung und Einschiffung, fest und unsicher Stehende, Leben und Sterben. Auch gibt es "vor uns" und "hinter uns" liegendes. Die Vergangenheit ist etwas, das ist, nämlich Vergangenheit, also zumindest dergestalt auch Gegenwart. Der Inhalt der Vergangenheit ist als Erinnerung Gegenwart.
Die Verrätselung von Identitäten, die Herbst mitunter in seinem Werk betreibt, erreicht in Traumschiff einen qualitativen Hochpunkt, indem durch die Demenz als Prozess die Identität ihrem Träger selbst verrätselt wird, der sich in Situation A befindet und plötzlich, überrascht, in Situation B wiederfindet, auch bei gleichzeitiger Konstanz der räumlichen Bedingungen. Die Wirklichkeit der Hauptfigur erweist sich als ein mentales Konstrukt, dessen wichtigster Bestimmungsgrund der Ich-Zerfall ist. Und je intensiver der Rückzug in das eigene Innere verläuft, ein geschlossenes System lässt sich dabei nicht erzeugen, weil immer noch kleinste Partikel von Außenwelt auf dieses System wirken.
Lanmeister schreibt:
"Ich werde, umgeben von Wasser, schwimmen, ohne dass ich es merke."
So ergeht es uns während der Lektüre.
Lassen wir uns vom Fluss der Erzählung tragen, entgeht uns vielleicht etwas unter der Oberfläche. Aber das ist bei einer ersten Lektüre gleichgültig, weil der Roman ähnlich einem guten Hitchcock funktioniert. Anspruchsvolle Literatur, an der man sich nicht sogleich intellektuell abarbeiten muss, um überhaupt etwas an ihr zu finden, die man vielmehr auch auf der sinnlichen Ebene mit Genuss rezipieren kann. Der Roman weist schon früh auf die Walküre hin, hat aber auch einiges von Verdi.
Anstelle eines Fazits: Mit wichtigen Buchpreisen werden gemeinhin Bücher geehrt. Vielleicht wäre es an der Zeit, einen dieser Preise mit einem Buch zu ehren. Alban Nikolai Herbsts Traumschiff wäre ein geeigneter Kandidat.
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