Liebenswerte, skurrile und tiefsinnige Geschichte
Sie ist 83 und kann sich nach einem Sturz im Bus momentan nicht gut bewegen: Lucia Binar sitzt also in ihrer Wohnung an der Mohrengasse in Wien und ärgert sich darüber, auf andere angewiesen zu sein. Denn gerade jetzt, da sie Hunger hat, tauchen die Männer vom Mahlzeitendienst nicht auf. Die alte Dame lechzt aber auch nach einem Buch, das ausgerechnet zuoberst in ihrem Regal steht und ohne Leiter nicht zu erreichen ist. So bleibt Lucia Binar nichts anderes übrig, als sich in Gedanken zu verlieren. Bis ein Mitbewohner des schon recht desolaten Hauses an der Türe klingelt und Lucia Binar für seine Idee gewinnen will, die Mohrengasse umzubenennen. Da stößt er bei der alten Lady jedoch auf wenig Gegenliebe. Sie, die in diesem Haus geboren wurde und vorhat, auch da zu sterben, will alles so bewahren, wie es war. Doch der Vermieter macht Lucia Binar das Leben schwer. Um die alten Mieter rauszuekeln quartiert er Obdachlose und sozial Randständige in die Liegenschaft ein und tut alles, damit die den alten Mietern das Leben schwer machen. Für die betagte Lehrerin eine ganz schöne Herausforderung. Lucia Binar ist aber nicht die Einzige, die mit ihrem Leben klar kommen muss. Auch Alexander, halb Baschkire, halb Russe, kämpft gegen die Geister der Vergangenheit an. Der ist nach Wien gekommen, um für einen exaltierten Maestro zu arbeiten, bewegt sich jedoch noch immer in den Erinnerungen an sein früheres Leben.
Leichtigkeit in der Erzählung
Vladimir Vertlib erzählt liebenswert, witzig und mit einer großen Portion Schrulligkeit von den Menschen, die sich rund um die Mohrengasse tummeln und ihre jeweils eigenen Vorstellungen von Glück umsetzen möchten. Diesem Teil seiner Erzählung wohnt eine wunderbare Leichtigkeit inne. Er kommt ganz nahe an seine Protagonisten heran, gibt ihnen nicht nur eine Stimme, sondern Konturen, Ecken und Kanten. Gerade Lucia Binar wird sich regelrecht in die Herzen der Leserinnen und Leser hinein katapultieren. Das, obwohl sie vom Charakter her eine schwierige Persönlichkeit ist, die durchaus Zähne zeigen kann, wenn ihr etwas nicht passt. Sie steht für die Menschen einer Generation, die unter dem sich immer schneller bewegenden Wandel leiden, die bewahren möchten, was ihnen lieb und teuer war und die darauf angewiesen sind, gewisse Dinge wiederzuerkennen, um sich noch wohl fühlen zu können. Nach und nach erfahren die Leser etwas über die Vergangenheit der alten Dame und können verstehen, weshalb sie sich so stark an die Mohrengasse gebunden fühlt. Hier gelingt es Vladimir Vertlib ausgezeichnet, ein sozialkritisches Bild zu zeichnen und eine Geschichte zu erzählen, die wohl alltäglich, und doch von einer eingehenden Tiefe ist.
Sehr schwere Rückblenden
Allerdings kann Vladimir Vertlib seine eigene Herkunft nicht verbergen. In der Figur von Alexander bringt er einen Protagonisten ins Spiel, dem er all diese schweren, ja gar depressiven Gedanken der russischen Seele auf die Schultern packen kann. Spätestens jetzt müssen die Leserinnen und Leser bereit sein, sich ganz auf eine zuweilen etwas bizarre Geschichte einzulassen und die vielen wiederkehrenden Rückblenden auf sich wirken zu lassen. Das ist gar nicht so einfach, verliert sich doch die anfängliche Leichtigkeit der Erzählung und macht einem etwas gar schleppenden Tempo Platz. Doch es lohnt sich, durchzubeißen und diese eher schweren Szenen auf sich wirken zu lassen. Denn zusammen mit dem witzigen und immer wieder mit einem Augenzwinkern erzählten Teil entsteht eine gute Mischung von Schwerem und Leichtem, die das Buch zu einem Genuss macht. Erst recht, da Vladimir Vertlibs Roman durchaus Tiefgang hat und nebst unterhaltenden Momenten viel Ernsthaftes bieten kann.
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