Wo bist du hier? Was machst du hier?
Die Welt gehört den großen transnationalen Konzernen, ihren Geschäftsmodellen, ihren Einflussmöglichkeiten in Wirtschaft und Politik, sie bestimmen viele Aspekte unseres alltäglichen Lebens, ohne dass wir sie und ihre Bewegungen bemerken. Sie sind die Fadenzieher hinter den Kulissen, ihre Vorstände die neuen Königsfamilien, die neue Feldzüge und Eroberungen an digitalen Landkarten planen. Wie sie funktionieren weiß niemand zu sagen, da sie zu groß und komplex sind, trotzdem ist man ihnen gegenüber misstrauisch, aus Prinzip, aus der Idee heraus, dass sie zu viel Einfluss haben und nicht greifbar sind. Gleichsam faszinieren sie aufgrund ihrer gigantischen Dimensionen und ihrer Fähigkeit, sich der Realität aufzuzwingen. Sie sind unheimliche Gewinner. Deshalb will man sie in Ketten legen oder Teil von ihnen werden.
U. - wie das "u" in "du" - ist Ethnologe, kein schlechter wie ihm der Erfolg seiner Forschungsarbeit nahelegt, und arbeitet seit Kurzem in einer Firma, die auf höchster Ebene mitspielt, mit Regierungen über Projekte verhandelt, die eigentlich niemand versteht, weil sie zu komplex sind. U. ist da keine Ausnahme, auch er versteht nicht so recht, was sein Arbeitgeber macht, zumal er ein Exot im Unternehmen, ein Paradiesvogel unter den Angestellten ist, jemand der interessant fürs Unternehmen ist, weil er anders und fremd sich einbringt in die wirren Strukturen. Meistens weiß U. nicht so recht, worin seine Arbeit besteht. Der Chef, ein inspirierendes Energie- und Aphorismenbündel, hat ihn persönlich angeworben, hat ihm Honig ums Maul geschmiert und lässt ihm meist freie Hand bei seiner Arbeit.
Diese transnationale Firma und U., sie sind sich beide recht fremd, wollen weder auf den ersten Blick noch auf den zweiten Blick zusammenpassen. Den Eindruck gewinnt der Leser, da es der Eindruck ist, den U. gewinnt. Aber die Firma schätzt ihn, der Chef scheint Ideen von U. aufzugreifen und daraus Gewinn zu ziehen, auch wenn es für U. selbst nicht ersichtlich ist, wie dieser Prozess vonstatten geht. Das jedoch ist das Problem von U., dem Ethnologen, der im Keller neben der Heizung sitzt, auf einem Außenposten dieser gigantischen Ideen- und Geldmaschine. Er versteht nicht, welchen Beitrag er leistet. Die Freiheit, die mit dem Beruf kommt, sowie das Geld und das Gefühl, an etwas Großem mitzuwirken, die versteht er zu genießen.
Die Mitmenschen interessieren U. nur bedingt, meist ist er mit seinen eigenen Tagträumen beschäftigt oder geht einem Thema nach, welches seine Aufmerksamkeit erregt hat. Ein Fallschirmspringer starb, da jemand die Seile seiner Schirme durchschnitt und ihn somit ermordete. Der Täter ist schwer zu ermitteln, da er im Verborgenen seine Tat beging. Das interessiert U., weil Sabotage und Tod, Ursache und Wirkung so weit auseinanderliegen, getrennt werden durch das Geschick des Mörders. Der nunmehr tote Fallschirmspringer wusste nichts vom nahenden Ende, es war angelegt im Hintergrund, seinem Blick entzogen. Faszinierend. Gleichsam faszinierend sind Ölkatastrophen, entdeckt U. bei seinen Recherchen, und stellt sich vor, wie er vor wichtigen und klugen Leuten einen Vortrag über die Ästhetik einer Ölkatastrophe spricht, sie derart interpretiert, neu verpackt, dass sie als etwas schönes erscheint, ja sogar als Verbesserung der Natur, als ihre Verschönerung. Er stellt sich vor, wie er sein Geschick, sich wortgewandt auszudrücken und einem beliebigen Thema Bedeutung zu geben, einsetzt, um Applaus und Zustimmung zu ernten. Er, der im Keller neben der Heizung sitzt, eigentlich ein Genie, eine Inspiration für andere Denker. Und deshalb wohl auch der entscheidende Faktor in dieser großen Firma, die zu komplex für ihn ist, die aber seine Ideen nimmt und mit ihnen die Welt verändert. So muss es sein.
Doch wie steht es mit der Verantwortung, die mit der Arbeit in dem Unternehmen kommt? Teilhabe an großen Veränderungen bringt Teilhabe an Verantwortung. Aber U. begreift seine Teilhabe nicht, die Entscheidungen trifft der Chef. Er ist nur ein kleines Zahnrad und sieht die Maschine nicht. Funktionieren und Wirken sind zu weit entfernt von ihm, deshalb ist er zumeist zufrieden damit, seinen Teil zu machen und seinen eigenen Interessen nachzugehen. Bis er eines Tages auf die Idee verfällt, seiner Geliebten Fragen über ihr Leben zu stellen.
Tom McCarthy ist ein unterhaltsames Buch gelungen, welches seine vielen, unterschiedlichen Teile raffiniert und geduldig zusammenbringt, so dass am Ende ein bemerkenswertes Gesamtbild entsteht, ganz zur Überraschung des Lesers, der für einen Großteil der Lektüre dem Irrglauben verfällt, ein mit Alltäglichkeiten gefülltes Buch zu lesen. Geschickt versteckt der Autor die wichtigen Themen im Buch, verpackt sie in schnödes Geschenkpapier, damit sie nicht vor ihrer Zeit bemerkt werden. Am Ende geht alles auf, man staunt nicht schlecht und hat auch nach dem letzten Satz noch Freude an diesem Buch, das zuvor so unspektakulär wirkte, mitunter willkürlich und wenig durchdacht, da es aus vielen kleinen Sprüngen besteht, die hierhin und dorthin zielen, aber scheinbar keinem Sinn unterworfen sind. Ein schöne Wendung, mit der auch der Protagonist U., jener Ethnologe und nicht Anthropologe, an Sympathie gewinnt.
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