Der Stift und das Papier
- Luchterhand
- Erschienen: Januar 2015
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- München: Luchterhand, 2015, Seiten: 384, Originalsprache
Die Schule des Schreibens
Die Biografien von Schriftstellern sind so einzigartig und unterschiedlich wie bei allen anderen Menschen auch. Draufgänger und Leisetreter gibt es unter ihnen, genau so wie Intellektuelle und Weltfremde. Manch einer umsegelte die Welt, bevor er den Stift zur Hand nahm und begann Papier zu beschreiben, ein anderer verließ zu Lebzeiten nur selten die angestammte und vertraute Heimat, schrieb an dem Tisch, an dem schon der Großvater arbeitete. In ihren Leben gab es nicht dieses oder jenes Ereignisse, das ihnen keine Wahl ließ und sie zum Schreiben brachte. Jeder fand seinen eigenen Weg zur Literatur, auf kleineren oder größeren Umwegen, von klein auf oder erst im höheren Alter. Einer schrieb aus Lust, der andere aus Frust.
Niemand wurde von den Umständen zum Schriftsteller gemacht, so wie eine Schale vom Töpfer oder ein Schwert vom Schmied gemacht wurde. Der Mensch ist schließlich kein beliebig formbares Material, man kann ihn fördern und ein wenig verbiegen, aber letztendlich doch nicht in eine Form pressen. Den Werdegang eines Schriftstellers gibt es nicht.
Nur eine Ausnahme gibt es: Hanns-Josef Ortheil. Der 1951 geborene Schriftsteller wurde wohl nicht als Schriftsteller geboren, aber doch schon in frühen Jahren nahm seine Entwicklung eine Richtung, die ihn zur Literatur bringen musste. Nicht gewollt, nicht gezwungen, sondern scheinbar ganz natürlich, um zu leben.
Als kleiner Junge musste Ortheil Zeuge werden, wie seine Mutter die Sprache ablegte, stumm wurde, da sie mehrere Söhne an den Krieg verloren hatte. Es war mehr als sie ertragen konnte und sie verweigerte sich der restlichen Welt. Später fand sie wieder zurück ins Leben und zur Sprache. Doch der junge, der letzte Sohn hatte es schwer. Er tat es seiner Mutter gleich, verstummte, fand später aber nur langsam den Rückweg zum gesprochenen Wort. Ein Außenseiter war er in der Schule, wurde gehänselt, meistens ignoriert. Dummer Schisser", sagten sie zu ihm und er reagierte nicht.
Dementsprechend groß war die Sorge der Eltern bezüglich der Entwickeln ihres Kindes. Auch er drohte ihnen verloren zu gehen. In der Jagdhütte des Vaters, im ruhigen Westerwald gelegen, wird dann der Versuch unternommen den Jungen mit dem Schreiben vertraut zu machen, abseits der Schule, weit weg von Anforderungen und lärmenden Mitschülern. Langsam und bedächtig, so beginnt die Schreibschule des Vaters und ist erfolgreich. Der Junge findet Gefallen, lernt und will immer mehr lernen. In der abgelegenen Idylle mit den Eltern verschwinden seine Ängste, er öffnet sich der Welt und dem Zauber des Wortes. Schnell werden aus einfachen Schreibübungen kleine Texte, in denen der Junge Beobachtungen festhält oder einfache Überlegungen. Kurz darauf folgen erste kurze Berichte und Erzählungen. Es geht rasend schnell, das Schreiben fliegt dem bis dahin so verschlossenen Buben nur so zu. Schreiben wird für ihn zum Lebenselixier.
Doch all der Leichtigkeit und Natürlichkeit hat eine Schattenseite. Der junge Ortheil spürt, dass er nicht nur schreiben will, sondern schreiben muss. Schreiben verbindet ihn mit der Welt, gibt ihm ein Mittel, um sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen. Dahinter steht beständig die Drohung des Schweigens. Nicht schreiben, so ahnt er und erkennt seine Angst, ist mit der Zeit verbunden, da er nicht sprach, ein Außenseiter war, sich in sich zurückzog und in der Schule gehänselt wurde. Das neue Leben, aktiver als das vorherige, hängt am Schreiben und kann mit diesem Vergehen. So überrascht es auch nicht, dass sich der Junge schlecht fühlt, wenn er nicht schreiben kann. Er ist dann nicht er selbst, unglücklich, unruhig.
Im weiteren Verlauf gibt das Buch die Entwicklung des Schreibenden wieder, berichtet von der zweiten Schreibschule, von der Mutter geleitet und der Musik gewidmet, von ersten Veröffentlichungen in der Zeitung, die noch nicht der Start einer Literaturkarriere sind, und auch von ganz kindlichen Erfahrungen, die wenig mit Literatur zu tun haben, dem Ganzen aber eine authentisch-kindliche Note geben.
Ortheil bedient sich einer wohl überlegten und gleichzeitig leichten Sprache, was dem Leser viel Vergnügen verschafft. Der Text fließt mühelos dahin, es gibt keine Härten und keine Probleme. Wie es zu diesem geschmeidigen Stil kam, erfährt der Leser bei der Lektüre und alles passt zusammen, so wie Stift und Papier zusammen passen.
Hanns-Josef Ortheil, Luchterhand
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