Zeit, Raum, Beständigkeit und Abgrund: Die vier großen Mächte
Was ist die Zeit? Wie viele Philosophen haben sich schon mit dieser Frage beschäftigt. Meist wird die Zeit dann als etwas unfassbares beschrieben, das sich jeden Augenblick verändert und immer weitergeht. Je nach Situation vergeht sie mal schneller, mal langsamer. Zu ihr gehören Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre. Sie gibt den Menschen, Tieren und Dingen ihr Alter, selbst ist sie jedoch unsterblich und ewig. Auch der Raum lässt sich ähnlich betrachten. Ohne Raum gäbe es kein Sein. Der Raum bildet quasi die Grundlage der Existenz und den Boden, auf dem sich das Leben bewegt.
Beständigkeit und Abgrund hingegen ergänzen die ersten beiden. Beständigkeit ist ein Zustand von Zeit. Sie existiert dann, wenn etwas über längere Dauer gleich bleibt. Abgründe gibt es zunächst im Raum, wenn er wegbricht und fehlt. Abgrund kann aber auch für das Schlechte der Welt genannt werden, die Abgründe der Seele oder der Menschheit beispielsweise. Gar nicht so einfach, wie hier deutlich wird, sich diesen vier Begriffen abseits ihrer konkreten Bedeutung zu nähern, steckt doch so viel mehr in ihnen, als eine einfache Definition. Lilly Lindner geht in ihrem neuesten Roman einen anderen Weg. Bei ihr sind Zeit, Raum, Beständigkeit und Abgrund Personen, die in einer besonderen Welt existieren und interagieren.
Sie ist fünfzehn, als der Tod sie mitnimmt, denn sie ist zu größerem bestimmt. Sie ist mehr als ein einfaches Mädchen, das zur Schule geht und sich mit Freunden trifft. Sie ist die Zeit. Ihr Leben in Winter ist nun vorbei, ihre Zukunft ist die Erde, auf der es zu diesem Zeitpunkt noch keine richtige Zeit gibt. Sie erwacht dort in einem Menschenkörper, lernt die Menschen und ihre Gewohnheiten kennen, die sie mit ihrer Unsterblichkeit jedoch alle überlebt, für die sie nicht zu fassen ist. Zusammen mit Kevin, dem Raum, David, der Beständigkeit und Shay, dem Abgrund, die wie sie aus Winter auf die Welt gekommen sind und ihr den Rahmen geben, denkt sie über das Leben und die Menschen nach.
Lilly Lindner wurde 1985 in Berlin geboren. Bereits mit fünfzehn begann sie autobiographische Texte und Romane zu schreiben. In ihrem Debüt Splitterfasernackt verarbeitete sie ihre eigene Geschichte - das Buch stand monatelang auf der Bestsellerliste und wurde von der Presse gefeiert. Zuletzt erschienen von ihr die ebenfalls viel beachteten Romane Was fehlt, wenn ich verschwunden bin, Da vorne wartet die Zeit und ihr autobiografisches Werk Winterwassertief.
Lilly Lindner setzt sich in ihrem neuesten Werk beinahe philosophisch mit Zeit, Raum, Beständigkeit und Abgrund auseinander. Dazu wählt sie jedoch einen ungewöhnlichen Weg. Sie personifiziert die vier Mächte, gibt ihnen Namen und lässt sie zu Menschen werden, die zwar nicht ganz gewöhnlich sind, aber unauffällig zwischen den Menschen leben. Die Charaktere der vier sind durch ihre ihnen eigene Macht geprägt, Shay als Abgrund verkörpert das Böse, wo sie auch immer ist, fließt oft Blut, kommt es zu Unfällen oder Tod. Zu David, der Beständigkeit gehören die Lieder, die Traditionen, Dinge, die die Zeit überdauern und Kevin, der Raum bildet die Grundlage für das Sein. Alle drei beschreibt sie als Löcher in der Zeit, Mächte, die die Zeit durchdringen und ihre Gestalt geben. In kurzen Kapiteln, die einzelne Ideen beschreiben und meist nicht länger als eine Seite sind, schreibt Lilly Lindner ihre Ideen nieder. Immer wieder wird der Text durch feine Zeichnungen ergänzt, die den Roman eher zu einer Gedankenreise als zu einer gewöhnlichen Lektüre werden lassen und zum verweilen einladen. Auch wenn die Geschichte auf den ersten Blick befremdlich erscheint, ist sie etwas besonderes. Es erfordert jedoch Bereitschaft, sich auf diese Art von Buch einzulassen. Ist man dazu bereit, trifft man auf eine faszinierende Erzählung, die eine Art moderne Philosophie beinhaltet.
Alles in allem ein lesenswerter Roman, der neben seiner phantasievollen und philosophischen Geschichte auch durch seine liebevoll gestalteten Bilder besticht. Die Autobiografie der Zeit ist kein Mainstream, was das Werk besonders interessant macht.
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