Der gestohlene Sommer
Eine unterhaltsame Mischung von Liebe, Geheimnis und Neid
Die junge Finanzanalystin Julia hat eben ihren Job verloren und weiß nicht so richtig, wo sie im Leben steht. Die Jobsuche gestaltet sich schwierig, die Zukunft scheint alles andere als rosig. Da kommt es wie gerufen, dass die New Yorkerin von einer Tante mütterlicherseits ein Haus vererbt bekommt. "Herne Hill" entpuppt sich als nettes Anwesen, das sich jedoch in einem stark vernachlässigten Zustand befindet. Julia beschließt, das Haus zunächst mal etwas zu renovieren, um beim Verkauf einen besseren Preis zu bekommen. Das aber entpuppt sich als Herausforderung: Denn seit Generationen wurde viel angesammelt. Für die pragmatische Julia ist schnell klar, dass es eine umfangreiche Entrümpelung braucht. Sie ist froh darüber, dass ihre Cousine Natalie, deren Bruder und der mit den Geschwistern befreundete Antiquitätenhändler Nick ihr dabei zur Hand gehen. Als Julia in einem alten Schrank ein gut eingeschlagenes Bild findet, das eine Szene aus "Tristan und Isolde" zeigt, ist sie fasziniert. Denn die Isolde auf dem Bild gleicht einer ihrer Vorfahrinnen, deren Portrait als imposantes Ölgemälde über dem Kamin hängt. Julia beginnt mit Nachforschungen darüber, was es mit dem verborgenen Bild auf sich haben könnte. Diese Nachforschungen führen sie ins Cornwall von 1839 zu ihrer Vorfahrin Imogen. Diese heiratete im Alter von gerade mal 16 Jahren den wohlhabenden Arthur Grantham und folgt ihm aus einem liebevollen Heim in ein unterkühltes Haus. Denn auf Herne Hill herrscht Jane Cooper, Schwester der verstorbenen ersten Frau von Arthur. Jane Cooper ist alles andere als begeistert darüber, dass ihr Schwager eine junge Frau ins Haus geholt hat und tut alles, um Imogen das Leben schwer zu machen. Nur in ihrer Stieftochter Evie findet die junge Frau etwas Zuneigung. Denn auch Arthur entpuppt sich schnell als liebloser Mensch. Als Arthur den aufstrebenden Maler Gavin Thorne bittet, seine Frau zu portraitieren, ändert sich Imogens Leben. Sie findet im Künstler zunächst einen Gesprächspartner, später einen Geliebten. Doch sie ist in ihrer Ehe mit Arthur gefangen.
Der Plot folgt einem bekannten Muster: Junge Frau findet im Nachlass von verstorbenen Verwandten Hinweise auf ein gut gehütetes Familiengeheimnis. Lauren Willig baut auf diesem Grundstock einen unterhaltsamen Roman auf, der durchaus ein paar Überraschungen bereit hält und sich durch eine geschickte Figurenzeichnung vom Gros der der ähnlich konzipierten Romane abzuheben vermag. Wohl sind die in der Gegenwart handelnden Figuren verhältnismäßig flach und unspektakulär, doch gibt es hier mit der Cousine Natalie immerhin einen Charakter, der etwas Zündstoff in die Geschichte hinein bringt. Die Protagonistin Julia wirkt etwas orientierungslos, es stellt sich immer mal wieder die Frage, ob es sich hier nun um eine naive junge Frau handelt, oder um eine überlegt handelnde Erbin. Schön kommt dabei der Unterschied zwischen der in New York aufgewachsenen Julia und ihren englischen Verwandten zum Ausdruck.
Viel mehr zu bieten hat jedoch der Erzählstrang, der in der Vergangenheit angesiedelt ist. Hier ist es allerdings auch weniger die Figur der Imogen, die den Reiz der Geschichte ausmacht. Interessant sind die Zusammenhänge mit der Künstlergruppe, zu der Gavin Thorne gehört. Hier kann Lauren Willig durch ihre Handlung geschickt in die Geschichte um die Entwicklung der Malerei in jener Zeit einsteigen und dem Leser ein Bild von einer Epoche präsentieren, in der sich vieles gewandelt hat. Aber auch das gesellschaftliche Korsett und die Stellung der Frau in der Mitte des 19. Jahrhunderts sind gut dargestellt. So präsentiert die Autorin nebst einer unterhaltsamen Geschichte auch einiges an Informationen über eine vergangene Zeit.
Bemerkenswert an Der verlorene Sommer ist, dass die Geschichte nicht einfach nur in ein Happy End mündet und man nach der Lektüre zur Tagesordnung übergeht. Es sind viele Schicksale dabei, die bewegen und nachdenklich stimmen. So ist dieser Roman letztlich eine Geschichte, die mehr Nachhall hat, als man zunächst vermuten würde.
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