Chronist der Einsamkeit
Richard Yates (1926-1992) arbeitete als Journalist, Ghostwriter und Lehrer, bevor er 1961 mit "Revolutionary Road" (dt. Das Jahr der leeren Träume, 1975, und Zeiten des Aufruhrs, 2002) seinen ersten Roman vorlegte, auf den 1962 die Erzählungssammlung "Eleven Kinds of Loneliness" (dt. Elf Arten der Einsamkeit, 2006) folgte. Bald zwanzig Jahre später erschien 1981 seine zweite Sammlung mit Short Storys, "Liars in Love" (dt. Verliebte Lügner, 2007).
Im Jahr 2001 wurde "The Collected Stories of Richard Yates" veröffentlicht, der neben den beiden Erzählungssammlungen auch neun "Uncollected Stories" enthält. Nun sind unter dem Titel Eine letzte Liebschaft diese verbliebenen neun Geschichten in deutscher Übersetzung erschienen. Ein Teil der Erzählungen wurde in zeitlicher Nähe zum Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben.
"Der Kanal" (The Canal) erzählt von einer Cocktailparty, auf der zwei Mitarbeiter einer Werbeagentur, der nachdenkliche Texter Lew Miller und der Kundenbetreuer Tom Brace, feststellen, dass sie im Zweiten Weltkrieg am gleichen Frontabschnitt gekämpft haben. Sogleich verwickelt Tom Lew in einen Männlichkeitswettbewerb, bei dem es um die Frage geht, wer in der gefährlicheren Lage und der bessere Soldat war. Die Erzählung wechselt zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, die Perspektive ist darauf beschränkt, was während der Party direkt wahrnehmbar ist und auf die Gedanken Lews. Im Verlauf des Abends denkt Lew zunehmend an seine Unzulänglichkeiten, während Tom sich mit Unterstützung seiner Frau zum Helden stilisiert. Lews Erlebnisse sind kein Stoff für eine Party, auf der Heldentaten in Gegenwart der Ehefrauen und anderer Gäste verglichen werden sollen.
"Der Kanal" eröffnet mit einem Satz, der beide Kontrahenten in Nähe zueinander bringt, als Betty Miller ihren Mann fragt, ob er nicht in derselben Division wie Tom Brace gewesen sei. Lew verneint und sagt: "tut mir leid". Nachfolgend geht es dann an die Unterschiede zwischen beiden. Yates beginnt traditionell, baut einen Konflikt auf und entwickelt diesen dialogisch fort. Am Ende bricht seine Geschichte an einem Punkt ab, an dem eine klassische Auflösung nicht möglich ist. Das Ende deutet inhaltlich hin auf eine Fortsetzung der kritischen Situation und formal auf die Short Story der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.
"Glocken am Morgen" (Bells in the Morning) ist eine sehr kurze Story. Zwei US-Soldaten, Cramer und Murphy, hören in der Schlussphase des Krieges eines Morgens Kirchenglocken. Ein Signal für das Ende des Krieges? Aber dann fällt ihnen ein, dass Ostersonntag ist, die Glocken in ihrer Situation ein falsches Signal der Hoffnung sind. Die Story besteht aus Cramers Gedanken, aus Dialogen und die Ereignisse kontrastierenden Umgebungsbeschreibungen. Die beiden Soldaten erleben den Krieg als Alltag, in dem sie sich eingerichtet haben, sie sind aber längst nicht mehr allein Kameraden, sondern Familie.
In "Abend an der Côte d'Azur" (Evening on the Côte d'Azur) gehen zwei Amerikanerinnen aus, Betty Meyers und Marylou Smith, deren Männer als Marinesoldaten nach Kriegsende in Frankreich stationiert sind. Hauptfigur ist Betty, die sich langweilt, weil sie viel Zeit damit zubringt, auf die Rückkehr ihres Mannes vom Dienst zu warten. Die Franzosen und ihre zwei Kinder kann sie nicht ausstehen. Die Frauen haben Sex mit zwei ihnen fremden Stabsbootsmännern und fühlen keine Schuld.
Die Traurigkeit, die diesem One Night Stand innewohnt, wird dadurch verstärkt, dass Betty aus ihm eine Romanze ableiten zu können glaubt. Sie fantasiert davon, mit dem Geliebten, der sich über den einmal praktizierten Sex hinaus gar nicht für sie interessiert und sie bis hin zu seinem Namen belügt, in ein anderes Leben aufzubrechen. Bettys gewünschte Flucht beinhaltet ausgerechnet einen Mann, der in dem, was ihr Probleme mit ihrem Leben bereitet, ihrem Ehemann ähnelt - er ist ebenfalls bei der Marine und in Frankreich stationiert. Außerdem hat er ihr ein Foto von seinen Kindern gezeigt, wobei offenbleibt, ob dies nicht auch zu seinem Lügenkonstrukt gehört. Am Ende fände sie sich in einer Situation wieder, der sie zu entkommen versuchen will.
"Ein persönliches Besitzstück" (A Private Possession) handelt von der vierzehnjährigen Eileen, Schülerin in einer katholischen Schule. Eileen findet auf dem Schulhof 50 Cent. Ihre Tante glaubt, Eileen habe das Geld gestohlen und zwingt sie, es einer Lehrerin und Nonne zu geben. Die glaubt der Tante und gibt Eileen keine Chance zur Richtigstellung.
Zu Beginn scheint eine kleine Lüge das Mädchen nur in Erklärungsnot zu bringen. Doch plötzlich steht Eileen als Diebin da und gerät in eine menschlich-unmenschliche Maschine, die aus Familie, Kirche, Schule besteht und von deren Repräsentanten betrieben wird.
In "Der Rechnungsprüfer und der wilde Wind" (The Comptroller and the Wild Wind) verlässt eine Frau ihren als langweiligen Buchhalter empfundenen Mann für einen anderen. Er versucht erfolglos eine Kellnerin anzumachen und wird übergriffig.
"Eine letzte Liebschaft" (A Last Fling, Like) präsentiert eine junge Frau, die ihrer Freundin in einem Diner von einem Europatrip erzählt, auf dem sie die letzte Affäre vor der Eheschließung hatte. Sie hatte viele derartige Beziehungen, aber weiß nicht, dass sie im Grunde alle langweilig waren. Im Kern ist dies ein achtseitiger Monolog einer Egozentrikerin, die Selbsttäuschungen konstruiert. Am Ende ist sie boshaft, hält dies für ehrlich und lügt doch nur wieder. Die Ehe scheint schon als unglücklich vorprogrammiert.
"Eine Klinikromanze" (A Clinical Romance) und "Diebe" (Thieves) spielen in einer Klinik für Kriegsveteranen. Der Protagonist aus der letzten Geschichte, "Ein genesendes Selbstbewusstsein" (A Convalescent Ego), hat die Klinik gerade verlassen. Yates kämpfte selbst als Angehöriger der US-Armee in Frankreich, litt unter seinen Kriegserfahrungen und der Tuberkulose, gegen Ende des Krieges zerbrach seine Ehe - Themen, die in seinem Werk wichtig sind.
Patient Tom ("Eine Klinikromanze") hat eine Beziehung zu einer Krankenschwester, die sich von ihm trennt und sich mit einem anderen Patienten einlässt. Frustration und Gewalt sind die Konsequenz, in einem Umfeld, in dem, soweit möglich, der vor-klinische Alltag nach und nach einkehrt. Die Geschichte ist ein Beitrag über die Anpassungsfähigkeit des Menschen an Extremsituationen.
Nach einem längeren Krankenhausaufenthalt soll sich ein Mann zu Hause erholen ("Ein genesendes Selbstbewusstsein"). Er fühlt sich von seiner Frau unter Druck gesetzt, glaubt, sie halte ihn für einen Faulenzer, während sie arbeiten müsse. Sie können sich kaum mehr etwas leisten. Er zerbricht in Abwesenheit seiner Frau neues Geschirr und überlegt, wie er es ihr beibringen soll. Die Geschichte präsentiert einen Mann, der zwar intelligent genug ist, Handlungsalternativen zu durchdenken, jedoch unfähig ist, sich auf die eine und angemessene Weise zu der Frau zu verhalten, die das Zentrum seines Lebens bildet.
Yates beschreibt Beziehungen zwischen Menschen, zwischen Ehepartnern, Eltern und Kindern, Geschwistern und Liebhabern, Beziehungen, die sich allesamt in verschiedenen Qualitäten des Zerfalls befinden. Oft hat man sich nichts mehr zu sagen, oder einer von beiden hat aufgegeben, sich dem Gegenüber mitzuteilen.
Yates ist ein feiner Stilist und hervorragender Dialogautor. Sprachliche Glanzlichter, die auf sich selbst verweisen, und Manierismen gibt es bei ihm nicht. Verzweiflung und innere Verwüstungen hingegen bekommt man bei nahezu jeder seiner Figuren geboten. Formal folgt er keinen Moden, seine Geschichten sind trotz der Einbindung in historisch nachvollziehbare Zusammenhänge in der Behandlung ihres emotionalen Kosmos' zeitlos. Er erweist sich als Chronist der Einsamkeit seiner Figuren, die nie durchdringen in die Tiefen ihrer Probleme, sondern immer vordergründige Erklärungen finden.
Wenn gute Literatur sich dadurch auszeichnet, dass sie anreizt, über uns, unser Verhältnis zum Leben und zum Nächsten nachzudenken, darüber, welche Strategien der Selbsttäuschung und der Täuschung anderer Menschen wir wählen, dann ist die Erzählungssammlung von Yates vorzügliche Literatur. Auch macht sie das Angebot, über moralische Fragen nachzudenken, ohne moralisch zu argumentieren. Yates ist einer der Schriftsteller, die den erzählerischen Fokus auf das Individuum einstellen, die fragile menschliche Psyche, den menschlichen Makel, die existenzielle Einsamkeit. Und dies gelingt ihm am Beispiel ausgewählter Figuren so allgemeingültig, dass er auch heutige Leser und Leserinnen mühelos erreicht.
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