Eine Familiengeschichte, in der es nicht an schwierigen Beziehungen und komplizierten Umständen mangelt
Familie, einander durch Blut und Verwandtschaft mit mehr oder weniger großer Zuneigung verbunden sein. Ob die Beziehung von Eltern zu ihren Kindern, die Beziehung von Geschwistern im Kindes- oder Erwachsenenalter oder auch zwischen Onkel und Tante, Nichte, Neffe, Cousin oder Cousine zueinander, wo Menschen aufeinandertreffen, entsteht Raum für Probleme. Zwar kann auch alles reibungslos harmonieren, doch die Gefahr, dass einzelne Kontakte gestört sind, erhöht sich mit der Anzahl der Menschen sowie der Häufigkeit und der Intensität ihrer Kontakte. Konkurrenz, Neid oder unterschiedliche Einstellungen und Lebensweisen werden zu Keimlingen von Streit und Ärger. Kompliziert wird es, steht man zwischen zwei Konfliktgegnern, fühlt sich beiden verbunden, was dann zu einem inneren Loyalitätskonflikt führen kann. Besonders schwierig, wenn Kinder sich in so einer Situation befinden...
Marcus ist der einzige Sohn der Goldmans, der Montclair-Goldmans, um genau zu sein. Denn es gibt da auch noch die Baltimore-Goldmans, die aus seinem erfolgreichen Onkel, seiner ebenso erfolgreichen Tante und ihrem hochbegabten Sohn Hillel bestehen. Die "Montclairs" hingegen sind das, was man als eine typische Mittelstandsfamilie bezeichnen würde. Sie haben ein kleines Haus im unschicken New Jersey, Marcus besucht eine staatliche Schule und die Eltern gehen einfachen Jobs nach. Ganz anders die Goldmans aus Baltimore: Sie sind wohlhabend, alles scheint ihnen zuzufliegen und neben ihrem eigenen Musterknaben haben sie noch ein weiteres Wunderkind, den Adoptivsohn Woody, der ein Sportass erster Güte ist. Auch die Beziehung zu den Großeltern ist von diesem Zweiklassenverhältnis geprägt. Als Kind ist Marcus hin- und hergerissen zwischen Bewunderung für diese "besseren" Verwandten und Eifersucht auf ihr perfektes Leben. Gleichzeitig plagt ihn das schlechte Gewissen, wenn er seine Zeit nur ungern mit seinen Eltern, sondern viel lieber mit seinem Onkel und seiner Tante verbringt. Oft schämt er sich sogar für die einfachen Verhältnisse, in denen er zuhause lebt. Doch ist er in Baltimore, ist die Welt für ihn in Ordnung. Hillel und Woody sind seine besten Freunde, zu dritt sind sie unschlagbar und als "Goldman-Gang" bekannt, zu dritt schwärmen sie auch für das Nachbarsmädchen Alexandra. Doch eines Tages zerbricht ihre heile Welt. Ein großes Unglück lässt die Erfolgsgeschichte der Baltimores innerhalb kürzester Zeit einstürzen. Acht Jahre danach beschließt Marcus, inzwischen längst berühmter Schriftsteller, dass es Zeit ist, die Geschichte der Baltimores aufzuschreiben. Dass er dabei erneut auf Alexandra trifft und die ganze Geschichte schon damals viel komplizierter war, als er je gedacht hat, lässt aus diesem Vorhaben eine nicht ganz leichte Aufgabe werden. Denn die "Wahrheit" über ihre Familie scheint viele Gesichter zu haben, die Marcus zu Beginn nicht ansatzweise hätte erahnen können.
Für Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert bekam Dicker den Grand Prix du Roman der Académie Française zugesprochen sowie den Prix Goncourt des Lycéens. Das bei einem winzigen Verlag erschienene Buch wurde in Frankreich zu der literarischen Sensation des Jahres 2012. Mit Die Geschichte der Baltimores konnte Joël Dicker an diesen überwältigenden Erfolg anknüpfen - der Roman steht seit seinem Erscheinen im Herbst 2015 ununterbrochen auf den obersten Plätzen der französischen Bestsellerliste.
Mit Die Geschichte der Baltimores hat Joël Dicker drei Jahre nach seinem hochgelobten Bestseller Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert einen weiteren Roman rund um den jungen Schriftsteller Marcus Goldman veröffentlicht. Wie auch in seinem ersten Werk lässt Dicker die Geschichte aus der Sicht seines Protagonisten erzählen, wie er bereits auf der ersten Seite mit den Worten:
"Ich bin der Schriftsteller. So nennen mich alle. Meine Freunde, meine Eltern, meine Familie, selbst mir unbekannte Menschen, wenn sie mich in der Öffentlichkeit sehen."
deutlich werden lässt. Leser, die seinen ersten Roman gelesen haben, werden sich an Marcus erinnern, allen anderen sei gesagt, dass beide Romane abgesehen von ihrem Erzähler nur wenige Gemeinsamkeiten bezüglich Orten oder Figuren haben und demnach auch nicht aufeinander aufbauen. Der zweite Roman kann somit getrost ohne Kenntnis des ersten gelesen werden. Ging es in seinem ersten Buch im Wesentlichen um die Aufklärung eines alten Mordfalls, widmet sich Marcus nun seiner eigenen Familiengeschichte, der Geschichte der Goldmans aus Baltimore und Montclair. Wie bereits erwähnt, haben beide Familien nur wenige Gemeinsamkeiten, wenn von ihrem Verwandtschaftsgrad abgesehen wird. Für den jungen Marcus ist daher die Ferienzeit die schönste Zeit im Jahr, wenn er dem langweiligen Montclair mit seiner durchschnittlichen Familie entfliehen und zu seinen Verwandten nach Baltimore kann. Er verlebt dort glückliche Kinder- und Jugendtage mit seinen Cousins, die für ihn wie Brüder sind. Gegen Ende der Schulzeit beginnt die enge Freundschaft jedoch zu bröckeln und schließlich geschieht die Katastrophe, die alles zerstören soll.
Dass Dickers Roman 500 Seiten umfasst, ist kaum vorstellbar, da er sich in einem weg lesen lässt. Der Schweizer Autor versteht es, seinen Roman so zu verfassen, dass man ihn kaum aus der Hand legen möchte, da er während seiner Geschichte immer wieder Ort und Zeit wechselt, von der Vergangenheit in die Gegenwart oder von Baltimore nach Montclair wechselt, wo er zwar meist aus der Sicht von Marcus, teilweise aber auch ihn über seine Verwandten erzählen lässt und deren Sichtweise wiedergibt. Auf diese Weise enden Kapitel oft genau an den Stellen, an denen es interessant wird, gleich eine neue, wichtige Information zur Katastrophe, von der die ganze Zeit die Rede ist, kommen muss. Doch das große Geheimnis der Baltimores behält Dicker fast bis ganz zum Schluss für sich. Nebenbei geht auch Marcus Geschichte in der Gegenwart weiter. Hat er am Ende des Romans Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert angekündigt, dass er sich nun auf die Suche nach der Liebe machen möchte, setzt er diesen Plan mit Alexandra, die auch in der Geschichte der Baltimores eine entscheidende Rolle spielt, um. Kritisch angemerkt werden kann eventuell, dass die beiden Bücher trotz ihres gleichen Protagonisten ansonsten kaum Verweise aufeinander beinhalten. Obwohl Harry Quebert im ersten Roman als so wichtig für Marcus Ausbildung beschrieben wird, wird ihm im zweiten Roman keine Bedeutung zugeschrieben und obwohl die Goldmans aus Baltimore ihn so geprägt haben sollen, werden sie ebenso wenig im ersten Roman erwähnt. Es erscheint ein wenig merkwürdig, dass es sich zwar um denselben Hauptcharakter handelt, sein Leben aber scheinbar ganz anders verlief.
Sprachlich und erzählerisch mindert diese kleine Anmerkung jedoch nichts an Joël Dickers neuestem Roman, mit dem ihm wieder ein Bestseller gelungen ist. Äußerst lesenswert!
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