Das fahle Pferd

  • Galiani
  • Erschienen: Januar 2015
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  • Berlin: Galiani, 2015, Seiten: 304, Übersetzt: Alexander Nitzberg
Das fahle Pferd
Das fahle Pferd
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Sebastian Riemann
701001

Belletristik-Couch Rezension vonSep 2016

Der mordende Weg ist das Ziel

Das Tagebuch eines Mannes, dem im Leben nur noch eine Sache bleibt. Das Töten. Nicht beliebiges Töten, nicht wild und ungestüm, sondern ruhig und bedacht, unter dem Vorwand politischer Aktivität. Ein Berufsterrorist ohne Skrupel, ohne Alternativen zum Töten. In seinem Handeln erkennt er nichts falsches und verwerfliches, es ist ihm schlichtweg eine Tätigkeit. Das, was er tut, ist sein Beruf, so wie andere Menschen anderen Berufen nachgehen. Der Unterschied liegt in der emotionalen Intensität, der Terrorist wird von Hass angetrieben, er ist stets getrieben und fühlt sich zu seinem Handeln gezwungen. Es ist das einzige, was ihm geblieben ist, ansonsten ist sein Leben leer, er findet nichts darin, was ihm Antrieb oder Motivation verleiht. Den Generalgouverneur von Moskau soll er töten, so lautet der Befehl und so wird es sein persönliches Mantra. Die Eliminierung dieses Mannes, dieses Vertreters des Staates wird zum Zentrum seines Daseins. Als Terrorist arbeitet er Vollzeit, macht gerne Überstunden. Privates bleibt dabei wenig übrig.

In Form eines Tagebuchs berichtet der Terrorist von seinem Alltag. Meist geht es dabei um Ausspionieren, Auskundschaften und Vorbereiten. Schließlich muss man wissen, wann und wo man den Generalgouverneur von Moskau erwischen kann. Der Plan ist es eine Bombe in seine Kutsche zu werfen. Also muss man seine Routen vom Haus zur Arbeit kennen, denn diese benutzt er regelmäßig, an bestimmten Tagen, zu bestimmten Zeiten. Die günstigsten Punkte für die Aktion müssen gefunden werden und natürlich muss auch jemand die Bomben bauen. Das Team der Terroristen trifft sich häufig, um Details zu besprechen, die Arbeitsteilung und das Timing des Anschlags, aber auch um andere Fragen zu erörtern. Zum einen müssen sie Acht geben, nicht entdeckt zu werden, sie müssen sich im Alltag tarnen und harmlos wirken. Denn der russische Geheimdienst bewacht wichtige Funktionäre des Staats und ist sich der Bedrohung durch die Terroristen durchaus bewusst. Die Arbeit beider Seiten resultiert in einem permanenten Katz-und-Maus-Spiel. Zum anderen diskutieren die Bomben bauenden Verschwörer über den Terror, über seine Rechtfertigung und seine Reichweite.

Religiös sind die meisten Motive, die gegen den Terror vorgebracht werden. Ein Mitstreiter des Tagebuchschreibers rechtfertigt seine Handlung durch wirre Auslegungen des Christentums, fürchtet sich gleichzeitig vor der ewigen Verdammnis. Er kann nicht anders als sein Handeln als Christ zu bewerten und einzuordnen. Hinter all seinen Fragen und Zweifeln, die er in den Zusammenkünften hervorbringt, steht immerzu die Frage nach dem, was übrig bleibt, wenn man die Religion hinter sich lässt. Sie sichert die Menschlichkeit und das Miteinander, sie ist Moral und Ordnung. Was bleibt ohne sie, fragt der gläubige Terrorist und erzittert ob der drohenden Leere.

Rechtfertigung erfahren die Bombenbauer im gegenseitigen Einvernehmen in Bezug auf die Ungerechtigkeit der Gesellschaft. Arme und Reiche leben in unterschiedlichen Welten, das alte System ist überholt, die Revolution naht. Eine kranke Gesellschaft muss geheilt werden und wenn es Terror braucht, um dies zu bewerkstelligen, dann sind sie bereit, diesen Terror auszuüben. Darin sind sie sich einig.

Unnahbar und geradezu unmenschlich erscheint der Terrorist die meiste Zeit, sich für das Attentat begeistern und das Attentat planen sind seine Haupttätigkeiten, alles arrangiert sich um das eine, kommende Ereignis. Mit Freunden etwas trinken gehen: Das macht er hin und wieder, aber die Freunde sind seine Bombauerkollegen und sie sprechen über die Bomben und den Generalgouverneur von Moskau. Ist er also völlig leer?, ist man als Leser geneigt zu fragen. Das würde erklären, warum er kein Mitleid mit den Opfern seines Terrors empfindet. Aber so einfach ist die Sache nicht, denn in der Geschichte kommt eine gehörige Portion vor, die innerhalb der Gruppe der Terroristen und außerhalb für Bewegung sorgt. Natürlich werden alle dabei enttäuscht, das ist keine große Überraschung. Ein wenig Frust muss schon im Spiel sein, damit die Figuren lebendiger werden und eine nachvollziehbare Motivation haben.

Das Buch erhält seine Stärke aus dem bedeutungsschweren Inhalt, den aufgeworfenen Fragen. Kann Mord gerechtfertigt sein in einer Welt, deren Ordnung nicht gerecht ist? Wiegt Mord aus persönlicher Motivation weniger als ein politisch motivierter Mord? Diese und noch viel mehr Fragen werden aufgeworfen und sie erschrecken, da sie an vielerlei Stellen – bei weitem nicht an allen – zeitgenössische Fragen berühren und aktuelle Bedeutung haben. Doch darf man den Terroristen aus Sawinkows düsterem Tagebuchroman nicht mit heutigen Terroristen verwechseln, da er keiner Ideologie bedarf, die ihm Versprechungen über seine Tat hinaus gibt. Er sucht kein Heil, keinen Ruhm, keine Vergebung, kein Recht und keine bessere Welt. Ein Alptraum ist er, das Morden ist ihm das eigentliche Ziel. Der Leser erschaudert mitunter an der kargen Sprache und der darin ausgedrückten Gleichgültigkeit, so wie es der Autor beabsichtigte.

Das fahle Pferd

Boris Sawinkow, Galiani

Das fahle Pferd

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