Der letzte Granatapfel
- Unionsverlag
- Erschienen: Januar 2016
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- -: -, 2002, Titel: 'Dwahamin Hanarai Danya', Originalsprache
- Zürich: Unionsverlag, 2016, Seiten: 320, Übersetzt: Ute Cantera-Lang, Rawezh Salim
Vom Vergessen und Suchen
Er verbrachte 21 Jahre seines Lebens im Gefängnis. Im Sand war er gefangen, so erinnert er sich, in einem Gefängnis umgeben von endlosem Sand, der sein Leben ausleerte und in nichts verwandelte. Die Wüste vernichtete ihn, raubte ihm alles, was sein Leben ausmachte, und brachte ihn doch nicht um, sondern machte vielmehr einen neuen Menschen aus ihm. Ein Mensch, in dem Leere herrscht und großes Vergessen, während die Welt sich weiterdreht und ihn in seinem fernen Exil vergisst, als wäre er im Sand völlig vergangen. Denn genau so war es geplant, man wollte ihn dort mit sich und dem Sand lassen, bis nichts mehr von ihm übrig war, nichts was zurückkommen könnte. Aber das Rad des Schicksals war ihm nach so langer Zeit der Entbehrung wohl gesonnen und warf ihn aus seiner Einöde zurück ins Leben, von dem er nichts wusste und nicht wusste, ob er noch hineinpasste. Die sich bewegende Welt mit all den umherirrenden Menschen war ihm fremd geworden und zuerst wurde ihm nicht erlaubt, sie vollends zu betreten. Dann aber kam seine Zeit.
Während der langen Jahre im Gefängnis, in denen er beinahe die Sprache verlernte, da niemand sich mit ihm unterhielt und ihm nur der Sand als Gegenüber übrig blieb, leerte er seinen Kopf. Nichts dürfte darin bleiben, was ihn bewegen könnte, was ihm seine Isolierung und Abgeschiedenheit spüren lassen könnte. Alle quälenden Gedanken musste er verbannen, allen Erinnerungen und Sehnsüchten entsagen. Die Haft im Niemandsland verlangte es, als Gegenleistung dürfte er seinen Verstand und seine Seele bewahren. Das simple, leere Dasein in der Zelle und im Sand, das war sein Leben, er selbst ein Niemand, der nichts wollte und nichts vermisste, sondern nur der Einsamkeit zuschaute. Aber er war nicht allein und dies war wohl der Gedanke, der sich am schwierigsten verdrängen ließ. Sein Sohn war irgendwo dort draußen, zog durch jene wilde Welt, in der es keinen Vater für ihn gab. Wahrscheinlich dachte auch der Sohn, dass der Vater gestorben sei. Vielleicht wusste er nichts von ihm. So war es wohl auch besser für beide, so konnten sie in Frieden ihren Leben nachgehen und mussten sich nicht den Kopf über den anderen zerbrechen.
Der Erzähler berichtet von seiner Gefangenschaft und von der Sehnsucht nach dem Sohn, da er seine Haft hinter sich hat und dennoch kein freier Mann ist. Ein alter Freund und Kamerad hält ihn in einem Schloss gefangen, sagt dort sei er sicher, sei geschützt vor der erbarmungslosen Welt, die ihn ohnehin schon vergessen hat. Es ist eine zweite Haft, nicht so erdrückend öde wie die erste, aber doch eine Haft, die schmerzt, da sie in unmittelbarer Nachbarschaft zur Freiheit liegt und der Gefangene das Gezwitscher der Vögel hören kann, die ungebunden über die Gärten des Schlosses hinwegfliegen.
Bachtyar Ali erzählt mit schönen, aufwendig verzierten Wörtern vom Schicksal in Kurdistan, dem Land der Kurden, das kein eigenes Land sein darf. Vom Kampf für Unabhängigkeit erzählt er, von Aufopferung und Folter, von Machtkämpfen in den eigenen Reihen, von Toten und Verwundeten, Hinterlassenen, Gefangenen und Gefängniswärtern. Es sind die Wirren im Nordirak, einer Region, die schon zu Zeiten Saddam Husseins eine wichtige und traurige Rolle spielte und auch im aktuellen Regionalkonflikt von großer Bedeutung ist. Der Autor selbst floh schon vor Langem aus dem Irak, da er in Folge von Studentenprotesten Probleme mit dem Regime bekam.
Das Buch schildert die Suche des Erzählers nach seinem Sohn, der sich auf nahezu magische Weise verdreifacht hatte in der Zeit der 21jährigen Gefängnisstrafe. Aber es geht um mehr. Die ehemaligen Freunde des Sohns sind besonders aufsehenerregend, sie gleichen Märchenfiguren, tragen bezaubernde Gegenstände mit sich herum oder ewige Schwüre im Herzen, regelmäßig sprechen sie in mystisch-philosophischen Worten vom Leben, vom Schicksal. Durch sie werden viele Szenen zu Parabeln auf die kurdische Gesellschaft, die sich unterdrückt und im Kampf gefangen sah für viele Jahre. Das mag für den europäischen Leser durchaus ungewohnt sein, wenn er nicht mit derartiger Literatur vertraut ist, und kann auch zu Verständnislosigkeit führen, stellt letztlich aber eine Möglichkeit dar, die eigene Lesegewohnheit herauszufordern, indem man sich der verführerischen Wirrnis Kurdistans hingibt und den Worten Bachtyar Alis lauscht.
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