Gewagte, aber geglückte Mischung aus Fiktion und Dokumentation
Auf gerade mal 160 Seiten gleich zwei brisante Themen überzeugend darzustellen, ist keine leichte Aufgabe. Jean Mattern stellt sich ihr - mit Erfolg. In den Mittelpunkt seines Romans September stellt er zwei Journalisten, die mit dem Ziel nach München reisen, über die olympischen Spiele zu berichten. Die Begegnung des Briten Sebastian und des US-Amerikaners Sam ist folgenschwer. Von einander fasziniert kommen sich die beiden Männer näher und verstricken sich in eine heftige Liebesaffäre. Für beide scheint die Zeit still zu stehen, sie erleben eine Liebe, die weit außerhalb ihrer bisherigen Realität liegt. Während sich die beiden Journalisten miteinander und ihren Gefühlen zueinander auseinander setzen, kommt es zur Katastrophe. Palästinensische Terroristen überfallen die israelitische Olympia-Delegation und nehmen sie als Geiseln. Eine fatal durchgeführte Rettungsaktion führt zum Tod der Geiseln. Die Welt ist schockiert - und die beiden Journalisten geraten in den Strudel der Ereignisse. Sebastian erkennt, dass er als ein anderer zurückkehren wird, als er nach München gereist war. Nichts wird mehr so sein, wie es vorher war.
Jean Mattern geht sehr offen an das Thema homoerotische Erfahrung heran. Er braucht keine langen Umwege, um die sexuelle Anziehungskraft der beiden Männer aufeinander darzustellen. Schon der erste Moment der Begegnung offenbart dem Leser, dass sich hier etwas entwickelt, was weit außerhalb einer bloßen Freundschaft angesiedelt ist. Obwohl Jean Mattern klare Bilder zeichnet, gleitet er nicht in einen Bereich ab, in dem die Schilderungen bizarre Züge annehmen oder durch ihre seichte Durchschaubarkeit langweilen. Er wählt genau die richtige Mischung, um eine Geschichte zu erzählen, die zwar außerhalb der Norm liegt - und in ihrer Intensität doch einen wichtigen Moment für die beiden Männer darstellt - aber nichts ist, was zu verurteilen wäre. Nicht ganz schlüssig wird der Leser wohl bei der Frage, ob sich hier eigene Erfahrungen des Autors eingeschlichen haben, oder ob Sebastian in dieser Sache eine fiktive Person ist. Das wird auch genährt durch den Umstand, dass Sebastian im ganzen Roman als Ich-Erzähler auftritt und die Ereignisse klar aus seiner Sicht erzählt.
Durchaus einen dokumentarischen Charakter haben hingegen die Schilderungen der Ereignisse rund um Olympia 1972 in Deutschland. Der Autor versteht es hervorragend, die anfängliche Euphorie und den Wunsch, die Spiele zu einem Fest der Freude werden zu lassen, um die Olympia 1936 vergessen zu machen, darzustellen und sie ins Entsetzen über die grässlichen Folgen der Geiselnahme weiterzuführen. Jean Mattern braucht nur wenig Raum, um der bedrückenden Szenerie ein Gesicht zu geben. Hier erweist er sich als wunderbarer Erzähler, der die beiden Geschichten so miteinander verknüpft, dass sie einander gegenseitig stützen und er so mit wenigen Worten viel entstehen lassen kann. Dass sich Jean Mattern einer temporeichen Sprache bedient, kommt der Spannung des Romans zugute.
Es ist kein Happyend, das Deutschland und die Welt in diesem Sommer 1972 erleben. So kann es auch kein Happyend-Buch sein, das zu diesem Thema verfasst wird. Aber ein Buch, das den Leser nach der letzten Seite mit dem Gefühl in den Alltag zurück entlässt, tief in eine andere Welt eingetaucht zu sein und verstanden zu haben, weshalb die Geschichte von Sebastian und Sam so und nicht anders verlaufen musste. Schließlich ist September ein Roman, der auf 160 Seiten so viel sagt, dass es ein 1000-seitiges Werk nicht überzeugender hätte tun können.
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