Was sind Erinnerungen?
Alma ist nicht nur alt, sie leidet auch an fortschreitender Demenz. In ihrem Haus in Kapstadt gibt es eine große Zahl von Kassetten, auf denen die Erinnerungen Almas zu finden sind: Auf die Kassetten kopiert nach einem Spezialverfahren. Damit soll das Gedankengut der alten Dame erhalten bleiben. Auf einer der Kassetten befindet sich auch die Erinnerung an einen besonderen Fossilien-Fund, den Almas Mann kurz vor seinem Tod in der Karoo-Wüste machte und der bahnbrechend sein könnte. Genau diese Kassette will der Gauner Roger haben. Er bedient sich eines Waisenjungen, Luvo, um in den Besitz der Erinnerungen Almas zu kommen und das Fossil zu bergen. Luvo soll die Kassetten durchforschen und die eine zu Roger bringen. Das aber erfordert viel Zeit – Zeit, die Luvo nicht hat. Denn Alma soll ins Pflegeheim gebracht werden, ihr Haus steht zum Verkauf. Der Zeitdruck macht Roger und Luvo unvorsichtig. Als sie nachts nach der Kassette suchen, werden sie von Alma entdeckt, die in ihrem Schrecken auf Roger schießt. Luvo hingegen entdeckt die entscheidende Information und macht sich nun alleine auf die Suche nach dem geheimnisvollen Fossil.
Novellen gibt es nicht mehr viele. Anthony Doerr hat zum Vergnügen seiner Leserschaft dieses Stilmittel wieder ausgegraben und serviert ihnen auf wenigen Seiten eine an sich berührende und wunderschöne Geschichte. An sich deshalb, weil es einige Szenen gibt, die eher einen etwas schalen Geschmack hinterlassen, da die Phantasie des Autors denn doch zu stark in Richtung SiFi driften und sich von diesem wunderschönen stimmigen Bild entfernen, das Anthony Doerr mit seiner Erzählung zeichnet. Er zeichnet mit Alma eine wunderbare Figur, die in ihrer demenzbestimmten Hilflosigkeit dennoch so viel Persönlichkeit hat. Auch Luvo ist eine faszinierende Figur, ebenso wie der Pfleger Pheko, der alles für die alte Dame tut, die ihm Arbeit gibt und damit ermöglicht, seinen Sohn aufzuziehen. Doerr zeigt die feinen Zusammenhänge auf, die die Menschen auf eine sehr starke Art zusammenhält. Hier ist die tatsächliche Feinheit der Novelle auszumachen. Doerr und seine Art, die Menschen in ein Beziehungsnetz zu rücken, sind absolut lesenswert.
Weniger gelungen sind leider ein paar Passagen, in denen sich der Autor in langatmigen Erläuterungen verliert. Hier ist die Novelle das falsche Gefäß, sollte doch der knapp bemessene Platz nicht mit an sich unnötigem Ballast vergeudet werden. Anders sähe es bei einem Roman aus, bei dem eine vertiefte sachliche Betrachtung durchaus ihren Platz finden könnte – wobei auch da nicht alle Leserinnen und Leser sich so tief in ein Spezialgebiet einlesen möchten. Diese wenigen Ausrutscher machen den Reiz der Novelle jedoch nicht zunichte, sie verleiten einzig dazu, an einigen Stellen den Text eher zu überfliegen, als ihn so intensiv auf sich wirken zu lassen, wie es die Novelle selber an sich verdient.
Anthony Doerr hat mit Memory Wall nicht nur dem Genre "Novelle" eine neue kleine Perle beigefügt, er hat auch bewiesen, dass man auf wenigen Seiten eine schöne Geschichte erzählen kann und dabei weder an Ausdruckskraft noch bei der Figurenzeichnung Abstriche machen muss. Es lohnt sich also, sich diese Erzählung in einer gemütlichen Stunde zu gönnen.
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