Ein langes Jahr
- Jung und Jung
- Erschienen: Januar 2016
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- Salzburg und Wien: Jung und Jung, 2016, Seiten: 212, Originalsprache
Sehnsüchtig sein heisst nicht wissen, wohin man möchte.
In 38 Episoden schreibt Eva Schmidt von einsamen Bewohnern einer deutschen Stadt am Ostufer eines Sees, die sich bis in die Berghänge erstreckt. Eine Strasse führt um die Stadt, über die unzählige Autos in die Schweiz, nach Österreich, Italien oder Kroatien fahren. Die Stadt liegt an der Grenze: ein Durchgangsort. In den 38 Episoden kommen nacheinander einige Bewohner dieser Stadt zu Wort, und was sie verbindet, ist ihre Einsamkeit.
Natürlich können sich die Bewohner des Steckdosenhauses, das so genannt wird, weil die Bewohner angeblich zu gewissen Nachtstunden kostenlos Strom beziehen können, gegenseitig sehen. Im Hochhaus kann man von einem Balkon zum anderen und in die umliegenden Gärten blicken. Man kennt die Nachbarn - vielleicht beim Namen, vielleicht ihre Routine des Zigarette-Rauchens oder ihren Arbeitsrhythmus. Vielleicht hat man sie auch schon einmal getroffen, beim Einkaufen oder als man mit dem Hund spazieren war.
Doch viele der Bewohner bleiben für sich und, kommen sie nacheinander zur Sprache, so merkt man, wie viel sie mit ihren eigenen Fragen beschäftigt sind. Sie mögen ihre Ruhe und sind allein. Manchmal treffen sie sich, begegnen sie sich, letnen sich kennen, manchmal freuen sie sich, wenn jemand da ist, manchmal sind sie beieinander und doch einsam.
Der Roman beginnt morgens, wenn die Natur, die stummen Berge und der ruhige See, aber auch ihre Bewohner, ein paar im Freien übernachtende Besucher wach werden - ruhig, namenlos. Es ist ein Morgen wie viele andere, der den Leser durch die Strassen führt und ihm das zeigt, was sonst niemand sieht. Es ist nicht wichtig, wer hier übernachtet hat, wer morgens schon oder noch durch die Strassen läuft, sondern eher zu bemerken, wie ruhig alles paralell zueinander abläuft. Es geht nicht darum, zu zeigen, wie hektisch eine Stadt sein kann, sondern darum, wie Menschen sind.
Der junge Ben hat einen Freund, der lieber Mutter spielen will. Und die Freundin, die er haben will, verliert er, noch bevor sie zusammen zur Burg steigen können. Aber vor allem hätte er gerne einen Hund. Hunde sind überhaupt die treuesten Begleiter der Erzählung, sie können trauern, sie sind immer da und sie stören nie, auch wenn Menschen nach ihnen treten können. Sie bringen die Menschen dazu, raus zu gehen, sie führen ihre Menschen durch die Natur und zueinander. Ben kümmert sich um den Hund eines alten Mannes, der gestürzt ist und deswegen selber nicht mehr mit dem Hund spazieren gehen kann. Und könnte er sich nicht alleine um den Humd kümmern, würde man ihn ihm wegnehmen.
In dieser Stadt leben Ben und sein Freund Joachim, ihre Mütter, Masarek, dann Karin und die beobachtende Ich-Erzählerin, der alte Mann und sein Hund Hem, der Drucker der nur nachts arbeitet und Karin - dazwischen der "schönste Ort der Welt", in den Berghängen eine Föhre. Es ist das Gefühl eines schweifenden Blicke, der dieses Gesamtbild zwischen Orten und Figuren ermöglicht.
Eva Schmidt ist eine österreichische Schriftstelllerin und Übersetzerin. 1997 erschien ihr erster Roman Zwischen der Zeit (1997). Davor schrieb sie kürzere Erzählungen, ein Format, das auch in ihrem zweiten Roman Ein langes Jahr, der es auch auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2016 schaffte, durchscheint.
"Am Fenster zu stehen und den Kopf in die Luft zu strecken, machte ihn sehnsüchtig. Sehnsüchtig sein heisst nicht wissen, wohin man möchte." Lautet das einleitende Zitat von Robert Walser. Und Sehnsucht scheint das Leitmotiv der Figuren zu sein, als zögerten sie noch. Ein langes Jahr ist ein schöner, ruhiger und anregender Stadtroman, der seine Figuren wie Planeten umeinander rotieren lässt in grosser Ruhe, und wenn sie aufeinandertreffen, rasen sie milimetergenau aneinander vorbei, einen Knall gibt es nur selten. Ein Roman, der Ruhe ausdrückt und spannend bleibt bis auf die letzte Seite.
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