Ein genaues Hinsehen lohnt sich
Auf den ersten Blick scheint es eine eher langweilige Aufgabe zu sein, die der Student Peter übernommen hat. Er soll einer alten Frau helfen, ihre Papiere zu ordnen, bevor sie in ein Altenheim übersiedelt. Doch schon der Empfang, den Eleanor dem jungen Mann bereitet, ist alles andere als langweilig. Die 94-jährige, nahezu blinde Frau, entpuppt sich als charismatische und rebellische alte Lady. Peter kann sich der Ausstrahlung Eleanors kaum entziehen. Als er in ihren Papieren auf Briefe stößt, die ein Verehrer geschrieben haben musste, ahnt er, dass die alte Lady ein Geheimnis hütet. Neugierig geworden, spricht Peter Eleanor offen darauf an. Sein Interesse und die Art, mit der Peter mit ihr umgeht, lässt Eleanor ihre Abwehr fallen. Bei etlichen Flaschen Wein erzählt sie von ihrem Leben als junge Frau, von ihren Sehnsüchten, ihrer Liebe. Und Peter beginnt zu verstehen, dass Eleanors Schicksal viele unschöne Wendungen genommen hat, die starke Frau daran aber gewachsen und zu dem geworden ist, was sie heute darstellt. Zwischen Peter und Eleanor entsteht eine intensive Freundschaft, die beiden einen ganz neuen Aspekt im Leben eröffnet.
Ja, In der Stunde der Dämmerung ist eine Liebesgeschichte. Aber eine, die so vielschichtig ist, dass die Bezeichnung "Liebesroman" hier gänzlich falsch eingesetzt wäre. Nicci Gerrard geht äußerst subtil vor. Sie legt zunächst den Fokus auf die Befindlichkeit des Studenten, der in das alte Haus kommt und als erstes in eine etwas unwirkliche Welt eintaucht. Seine Begegnung mit Eleanor beschreibt die Autorin mit so viel feinem Humor, dass man sich wünschte, der ganze Roman möge in diesem Ton weiter gehen. Doch ganz langsam - fast unmerklich für den Leser - wechselt die Autorin ihre Erzählweise. Sie wird ernsthafter, leiser. Hat der Leser Eleanor zunächst als taffe ältere Lady kennen gelernt, die ihr Leben meistert und den besorgten Verwandten durchaus die Stirn bietet, kommen nun ganz andere Töne ins Spiel. Eleanor bleibt zwar eine leidenschaftliche Frau, aber auch eine, die bereit ist, ihre eigenen Wünsche und Gefühle für ein übergeordnetes Ganzes hinten an zu stellen. Und die auch bereit ist, aus dem, was sie haben kann, das Beste zu machen.
Beim Blick in die Buchbeschreibung erwartet mancher Leser wohl gewaltige Geheimnisse, die die ganze Familie umkrempeln könnten. Weit entfernt davon bewegt sich Nicci Gerrard mit ihrer Geschichte nicht. Und doch bleibt sie auf einer anderen Ebene. Einer, die zum Nachdenken anregt und dazu auffordert, genauer hinzusehen. Nach und nach lässt die Autorin ihr Publikum durch die Augen von Peter einen Blick auf ein Leben werfen, das von vielen Kränkungen, Entsagungen und enttäuschter Hoffnung erzählt, aber auch von bescheidenem Glück und inniger Verbundenheit. Sehr schön stellt Nicci Gerrard den Konflikt dar, in den Peter gerät. Denn je mehr er über Eleanor erfährt, desto verbundener fühlt er sich der alten Lady und gerät in einen Loyalitätskonflikt, als er spürt, dass die Familie ihre ganz eigenen Pläne mit Eleanor und ihrem Vermächtnis hat.
Es ist jedoch nicht einzig die Lebensgeschichte der alten Frau, die den Roman In der Stunde der Dämmerung auszeichnet. Es ist auch das vielschichtige Familienportrait, das die Autorin nach und nach zeichnet. Die Figuren sind sehr gut ausgestaltet, die Zusammenhänge nachvollziehbar und die jeweiligen Handlungen schlüssig. Tatsächlich schafft es die Gerrard auch, einige Spannung in die Geschichte hinein zu bringen, obwohl es sich hier nicht primär um einen Spannungsroman handelt. Wer bereit ist, sich auf die verschiedenen Facetten dieses Romans einzulassen, wird eine vielschichtige und wohl länger anhaltende Unterhaltung finden.
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