Wie viel von ihrer Gewalt ist auf dem Papier wiederzufinden?
Ein gefeierter Roman von einer jungen Autorin, die Worte in ihren verschiedensten Formen zum Leben erweckt - als Text, gerapt oder als HipHop oder auf einer Theaterbühne. Doch wie wirken ihre Worte in ihrem ersten Roman? Wie viel von ihrer Gewalt ist auf dem Papier wiederzufinden?
Denn darum geht es eigentlich die ganze Zeit: um Gewalt. Die Gewalt der Stadt, der Drogen, des Weltschmerzes, der Familie. Die Protagonisten des Romanes balgen sich durch eine Stadt, in der sie keinen Anschluss finden und von der ihnen nichts bleibt als kleine Wohnungen, Bars, die Nächte voller Drogen. Wo sind die Momente des Glückes und der Schönheit, von denen der Klappentext schreibt? Sie blitzen kurz auf, am Strand, in der Liebe, in Europa, am Familientisch. Doch die Umgebung - die Stadt - ist grau und schwer. Die Szenerien erinnern an Sin City, Grautöne, manchmal blitzen Blut oder weisses Koks auf. Die junge Tänzerin Becky wäre eigentlich gerne Teil eines Tanzensembles, hat es aber nicht geschafft. Gelegentlich hat sie Auftritte als unterbezahlte Background-Tänzerin in Musikvideos. Tagsüber kellnert sie im Café ihres Onkels und nachts gibt sie erotische Massagen. Ihr Freund Pete hat trotz drei Jahren Studium keinen Job gefunden und lebt bei seinem Vater. Pete liebt Becky, ist aber emotional ahängig von ihr. Und besitzergreifend und eifersüchtig. Dazu stösst Harry: eine junge Frau, die gebucht werden kann und dann auf Partys Koks verkauft, damit die Gäste "Interesse am Gelaber der anderen heucheln können". Seit ihrer frühen Jugend verkauft sie mit ihrem besten Freund Leon Drogen: um auszusteigen, nicht nur aus dem Business, sondern aus dem Leben, das sie führen.
Die Geschichten um die drei Personen binden ihre Bekannten, Freunde, Mitbewohner und Verwandten ein - und ziehen immer engere Kreise, bringen alle zusammen und durcheinander. Denn wo Liebe krank macht und der Verkauf von Koks oder Handjobs die einzige Aussicht auf einen Ausweg bietet, geht vieles schief.
In der Frankfurter Allgemeinen vergleicht Tempests Roman mit Allan Ginsbergs Howl. Tempest schildert Untergänge und Abgründe, Wände gegen die ihre Figuren laufen und hinabschlittern, Mauern die sie sich bauen: I saw the best minds of my generation destroyed by payment plans... Doch die Wortgewalt beider Schriftsteller ist bei Weitem nicht vergleichbar. Ginsbergs Howl lebt von Anspielungen und bäumt sich unter gewaltigen Halbsätzen auf. Worauf du dich verlassen kannst ist ein Roman - kein Gedicht. Tempest formuliert aus, malt Lücken aus. Doch im Ver-Dichten findet sich die Schwachstelle des Schreibens der jungen Autorin. Sie Ver-Dichtet: Denn in ihrem Roman scheint Tempests gesamter Werdegang zusammenzulaufen. Figuren aus ihren Songtexten, aus ihrem Stück, die Titel ihrer Songs tauchen auf und bewegen sich durch South-East London.
Aber sie Ver-Dichtet auch, indem sie erzählt, indem sie Familiengeschichten einfliessen lässt und beschreibt, seien es Charakterzüge, Bewegungen oder Räume. Allerdings kann man dabei über verschiedene Vergleiche stolpern, die eigentlich nichts bedeuten ("Ihre Stimme klingt wie ein kaputtes Fenster, durch das es reinregnet."). Oder aber über Familienschicksale, die zwei bis drei Seiten füllen und dabei allerdings oft viel zu viele Klischees bedienen - in dem Willen, etwas anzuklagen. Der Drang des Anklagens ist stark und macht den Drive der Erzählung aus. Denn man merkt, dass die Protagonisten nicht zufrieden sind, dass sie kaputt gehen und kaputt machen. Der Roman lebt vom Weltschmerz, der den Leser bei jedem Clubbesuch, bei jedem Gang durch die Strassen verfolgt. Es ist gut, den Fusstritt in der Magengegend zu spüren, wenn von Gentrifizierung die Rede ist, wenn das obdachlose Mädchen in der dunkelen Strasse beachtet wird oder eine Gruppe "verlorener Seelen" nachmittags zu einer Gitarre singt.
"Heute werden sie sich ins Delirium saufen, fröhlich und mit Drogen vollgepumpt. Edelsteine in den Fusseisen Süd-Londons."
Edelsteine? Während niemand mehr seinen Platz findet und alles auseinanderzudriften scheint - während man den Schein wahren will. Den Ruf, das Facebook-Profil, das geheuchelte Interesse am Gelaber des Gegenübers. Tempest sieht, dass die Stadt kränkelt, und ihre Figuren tun es auch. Doch sie hat keinen Lösungsvorschlag. Das im Roman auftauchende politische Manifest "Wie wir die Macht übernehmen, ohne dass die Macht uns übernimmt", das eine bessere Gesellschaftsordnung propagieren könnte, erscheint dem Leser wie die Lösung auf das kranke Europa. Doch im Roman steht es nur für die Unterdrückung andersdenkender, für einen weiteren zerstörten Lebensweg.
Laut Guardian ist Kate Tempest "the brightest talent around". Kate Esther Calvert alias Kate Tempest ist in South-East London aufgewachsen. Mit 16 Jahren ging sie ohne Abschluss von der Schule ab, um Kreatives Schreiben zu lernen. Heute ist Kate Tempest Lyrikerin, HipHopperin und Poetry Slammerin. Ihr Gedicht "Brand New Ancient" gewann 2013 den Ted-Hughes-Preis. Sie hat ein Theaterstück namens "Wasted" inszeniert, in dem die Figuren ihres Roman zum ersten Mal aufgetaucht sind. 2014 war sie mit ihrem Soloalbum "Everybody Down" auf Tour und hat unterwegs ihren Roman Worauf du dich verlassen kannst geschrieben. Das Cover verleiht dem Buch den Hauch eines Klassikers, einer Bibel, und durch seine Robustheit auch eine gewisse Zugänglichkeit. Die Übersetzung hat allerdings ihre Schwächen: einige grobe Übersetzungsfehler haben sich eingeschlichen.
Kate Tempest müsste sich auskennen, mit den Worten und ihrer Kraft. Man sagt, sie sei eine politische Stimme, gar die Stimme einer ganzen Generation, die Wortführerin der englischen Arbeiterklasse. Derartige Lobpreisungen machen begierig, und ihren Roman Worauf du dich verlassen kannst kann man verschlingen. Doch die Versprechen machen den Leser auch stutzig, denn von der angekündigten pompösen Politik, der Lebensphilosophie oder der Kritik, dem Aufrechnen mit der Stadt bleibt dann doch nicht mehr viel übrig ausser einem unwohlen Gefühl. Ausser einer Geschichte, von Menschen die sich durchbeissen müssen - aber die nie ganz unten waren.
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