Kompass

  • Arles: Actes Sud, 2015, Titel: 'Boussole', Originalsprache
  • München: Hanser Berlin, 2016, Seiten: 432, Übersetzt: Holger Fock und Sabine Müller
Kompass
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Sebastian Riemann
841001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2017

Die Sehnsucht nach dem Fremden

Franz und Sarah sind Orientalisten, er kommt aus Wien, sie aus Paris. Bei gemeinsamen Forschungsaktivitäten lernen sie sich kennen und Franz verliebt sich in Sarah. Die lebensfrohe und offene Art von Sarah tut es ihm an, sie wird zu einem Engel für ihn. Wenn im Hintergrund die Sonne untergeht, erstrahlt ihr Gesicht in goldenem Glanz, wird eingerahmt wie ein Gemälde Leonardo da Vincis. Ein Zauber geht von ihrer Schönheit, aber auch von ihrem vitalen Wesen aus. Sarah hat ein unstillbares Interesse an ihrem Forschungsgegenstand, sie ist Forscherin mit Leib und Seele, kann nie genug sehen und lesen. Sie reist, um zu forschen, ihre Freizeit verbringt sie in Museen und Ausstellungen. Ihre wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind immer ungewöhnlich und höchst interessant, Franz ist jedes Mal fasziniert, wenn er einen von ihnen liest und natürlich liest er alle Artikel von Sarah. Er selbst ist zurückhaltend und schüchtern, lebt für sich allein, zufrieden mit seiner Arbeit an der Universität, aber mit weniger Enthusiasmus. Regelmäßig schreibt er Sarah, will wissen, wie es ihr geht, wann sie wieder nach Wien kommt, ihn besuchen. Er hat Sehnsucht nach ihr.

Franz ist krank, er liegt im Bett in seiner Wiener Wohnung und kann nicht schlafen. Vielleicht wird er bald sterben, vielleicht übertreibt er ein bisschen. Das ist schwer zu sagen. Jedoch fühlt er sich so schlecht, dass er auf sein Leben und seine Beziehung zu Sarah zurückschaut wie jemand, der einen letzten Blick auf sein vergehendes Leben wirft. Im Zentrum steht die Liebe zu Sarah, die Bühne ist geschmückt mit allerhand Exotik und Geschichten aus fernen Ländern.

Der Orient war und ist eine Faszination für die Europäer. Er ist Zauber, Schönheit und Schrecken. Er ist das Andere. Während Europa sich selbst kennt, ist der Orient das Unbekannte, ein Land, das in mysteriösen Rauch eingehüllt ist und sich nicht leicht zu erkennen gibt. Der Rauch mag von einer Opiumpfeife kommen, die den Rausch und das Vergessen bringt. Eigentlich verspürt Franz keinen Drang Drogen auszuprobieren, aber seiner ersten Opiumpfeife in Istanbul kann er sich nicht entziehen, schließlich ist er Orientalist und will dem Orient nahekommen. Die Sehnsucht nach einer anderen Welt ist Teil seiner sonst so ruhigen und wenig bewegten Persönlichkeit. Meistens entdeckt er den Orient von seinem Schreibtisch aus oder in der Bibliothek, aber dann wagt er sich auch persönlich in die geheimnisvollen Regionen, die er jahrelang im heimischen Wien studierte. Ihn interessieren die Verbindungen zwischen Orient und Okzident in musikalischer Hinsicht. Meist stößt er auf Unverständnis oder große Augen, denn seine Fragen zu Liszt und seinem Klavier in Istanbul erscheinen selbst den Experten exotisch und mitunter abwegig. Aber er folgt seinem Forschungsinteresse und findet allerhand orientalische Einflüsse in der Musik Europas. Dabei reist er durch verschiedene Länder und lernt viele interessante Personen kennen, viele Orientalisten. Jeder kann Geschichten erzählen, über die Vergangenheit des Landes, über die eigene Sehnsucht nach dem Anderen. Liebe und Drogen spielen oft eine zentrale Rolle.

Die größte Entdeckung seiner Reise in den Orient ist jedoch Sarah, von der Franz seine Augen nicht abwenden kann.
In die Geschichten mischen sich immer wieder kurze Bemerkungen des kranken Franz, der daheim in seiner Wiener Wohnung auf dem Bett sitzt und nicht schlafen kann. Er denkt zurück an die Reise, an Sarah und muss auch der Gegenwart ihren Raum geben. In romantisch verträumter Stimmung erinnert er sich an ein besonders schönes Abendessen mit Sarah. Das Ambiente war einzigartig, das Essen köstlich. Schöner als jede Vorstellung, die man vom Orient und seinem Zauber haben kann. Die Erfüllung der Sehnsucht eines Orientalisten und des verliebten Franz. Doch die Vergangenheit verschlingt die Erinnerung. Damals aßen sie in Aleppo, jener Stadt, die heute aus Trümmern und Ruinen besteht, in der unzählige Kämpfer ihr Leben ließen. Aleppo ist das Symbol des verlorenen Kampfes in Syrien, ein Ort der Verzweiflung und der Trauer. Das romantische Abendessen mit Sarah erscheint wie ein Traum im Kontrast mit der grausamen gegenwärtigen Realität.

Mathias Enard hat ein sehr schönes und sehr interessantes Buch über den Orient und den Orient in Europa geschrieben. Es vereint Kulturgeschichte, Mystik und höchste Erzählkunst, wie man sie aus 1001 Nacht kennt. Aus der Nähe und aus der Ferne wird erzählt, immer mit viel Begeisterung und Hingabe. Dabei wird man zum Nachdenken über das Eigene und das Fremde angeregt, wird zum Träumen verleitet. Ein Bull voller Sehnsucht und auch voller Verständnis, denn letztendlich bringen die Figuren im Kompass den Orient und den Okzident zusammen, vereinen die beiden Welten, die so unterschiedlich erscheinen.

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