Vom Ende der Einsamkeit

  • Diogenes
  • Erschienen: Januar 2016
  • 2
  • Zürich: Diogenes, 2016, Seiten: 6, Übersetzt: Robert Stadlober
Vom Ende der Einsamkeit
Vom Ende der Einsamkeit
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Rita Dell'Agnese
851001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2017

Die Suche nach der eigenen Identität

Eine ganz normale Familie aus München: Vater, Mutter, drei Kinder. Bis zu jenem schrecklichen Tag, an dem ein Autounfall die drei Jugendlichen Jules, Marty und Liz zu Waisen macht. Die Geschwister müssen in ein Internat übersiedeln, wo sie - in unterschiedlichen Gruppen untergebracht - ihre Schulzeit fertig machen wollen. Für alle drei ist dies ein tiefgreifender Einschnitt in ihr Leben. Sie vermissen den familiären Zusammenhalt und rebellieren alle auf ihre eigene Weise gegen die neue Situation. Der bis dahin draufgängerische Jules - zieht sich in sich selber zurück und verschließt sich langsam. Marty, schon immer der "Intellektuelle" der Familie, wird zum Streber, der sich gegen seine Geschwister abgrenzt. Und Liz, bis dahin besonders von Jules behütet, befindet sich in freiem Fall. Sie rebelliert, sucht in körperlicher Nähe Geborgenheit und muss bald vom Internat abgehen. Einzig die Tante der Geschwister bildet noch einen festen Punkt im Leben der Drei. Doch der familiäre Zusammenhalt ist mit dem Tod der Eltern stark angeschlagen, die Geschwisterliebe bröckelt. Jules findet Halt in seiner Mitschülerin Ava, die einzige Person, die ihn zu verstehen scheint. Er ist sich sicher, dass Ava seine Zukunft ist - doch noch bevor er ihr seine wahren Gefühle gestehen kann, setzt Ava einen Punkt, der durch seine schmerzhafte Grausamkeit sämtliche Träume von Jules zerschmettert. Jules verliert sich in Träumen und unrealistischen Ideen. Auch Liz droht unterzugehen - ihre Beziehung, auf die sie ihre ganze Hoffnung gesetzt hat, scheitert nach einer Abtreibung. Im letzten Moment können ihre Brüder die unter Drogen stehende Liz vor dem völligen Untergang retten. Auch Jules und Marty, schon seit längerem kaum mehr in der Lage, miteinander ein Wort zu wechseln, kommen sich wieder näher. Die inzwischen erwachsenen Geschwister müssen erkennen, dass sie einander doch mehr brauchen, als sie sich zugestehen wollten. Und versuchen, sich gegenseitig Halt zu geben. Doch da ist noch die unbewältigte Vergangenheit jedes Einzelnen.

Autor Benedict Wells bietet einen sanften Einstieg in die Welt der drei Geschwister. In Rückblenden auf gemeinsame Tage im Haus der Großeltern in Frankreich wird ein fast schon idyllisches Familienleben geschildert. Die heranwachsenden Kinder sind alle auf einem guten Weg. Der Leser erlebt eine mehr oder weniger unbeschwerte Phase, lernt die verschiedenen Persönlichkeiten kennen und erfährt mehr über das unterschwellige Zusammenspiel der Geschwister. Hier offenbart der Autor schon zum ersten Mal seine Fähigkeit, Figuren durch ihre Handlung zu Persönlichkeiten zu formen, die dem Leser sehr nahe kommen - wohl gerade durch den Umstand, dass sie sich wie "ganz normale" Menschen entwickeln, bewegen und verhalten. Es ist überaus stimmig, was Benedict Wells danach mit seinen drei Protagonisten macht. Die verunsicherten Jugendlichen schickt er zunächst auf die Suche nach der eigenen Identität. Alle drei müssen mit dem doppelten Verlust fertig werden: Sowohl die Eltern als auch ihre bisherige Heimat sind verschwunden. Sehr schön zeigt der Autor auf, wie seine Figuren sich alle unterschiedlich auf die neue Situation einstellen. Zu keinem Zeitpunkt kommt das Gefühl auf, hier würde übertrieben oder ein unrealistisches Szenario aufgebaut. Diese Stimmigkeit hält Benedict Wells auch im weiteren Verlauf der Geschichte bei.

Wollte man nun die Essenz aus der Handlung herausfiltern, so käme wohl nur ein ganz winziges Tröpfchen zustande. Es sind keine spektakulären Auftritte, die die Geschwister im weiteren Verlauf des Romans haben. Auch wird niemand von ihnen zum großartigen Helden, der alle tragischen Ereignisse durch seinen Mut vergessen lässt. Die Qualität des Romans besteht aus etwas ganz anderem: Dem stillen Verlauf. Hier ist die eigentliche Handlung. Es ist lebensnah und genauso schwer vorhersehbar. Immer dann, wenn sich ein bestimmter Weg aufzuzeigen scheint, kommt es zu einer überraschenden Wendung. Ganz so, als ob das Leben den drei Protagonisten nicht wohlgesonnen wäre und sich die eine oder andere Erschwernis für sie ausgedacht hätte. Es sind jedoch keine "künstlichen" Hürden, die sich den dreien in den Weg stellen. Es ist letztlich vor allem ihre eigene, tiefgreifende und vor allem möglichst verdrängte Verletzung durch den plötzlichen Tod der Eltern. Eine unbewältigte Trauer, die jeden der drei dazu zwingt, sich mit sich selber auseinander zu setzen. Die Frage, wie die drei diese Herausforderung meistern, ist der zentrale Punkt, um den sich der Roman dreht. So gut dargestellt, dass zu keinem Zeitpunkt das Gefühl aufkommt, es sei nun doch etwas langweilig, so ganz ohne "Action".

Nein, ein Thriller ist Vom Ende der Einsamkeit keiner. Es ist ein feinfühliges Buch mit hervorragend gezeichneten Figuren, einer überzeugenden Geschichte und viel en Facetten. Der junge Autor Benedict Wells hat schon einige überzeugende Werke geschaffen. Vom Ende der Einsamkeit ist bisher das Stärkste. Dieser Roman lässt auf noch so manches hervorragende Werk aus der Feder von Benedict Wells hoffen.

Vom Ende der Einsamkeit

Benedict Wells, Diogenes

Vom Ende der Einsamkeit

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