Ein Griesgram berichtet
Der Rest der Menschheit ist wirklich nur schwer zu ertragen. Es sind niedere Gestalten, eigentlich keines Blickes wert, aber leider kann man sie nicht die ganze Zeit ignorieren und an ihnen vorbeigehen, als wären sie Luft und ohne jegliche Bedeutung. Sie sind überall, wimmeln auf den Straßen und in den Büros umher, reden ohne Unterlass über alle möglichen dummen Sachen, manchmal stößt man mit ihnen auf dem Newski-Prospekt zusammen, da sie nicht aufpassen und ihren fein gemachten Kopf arrogant in die Höhe strecken, um größer zu wirken als die anderen niederen Menschen, die sich dort tummeln.
Es bleibt einem eigentlich nur eine Lösung. Man muss sich dem ganzen Unsinn entziehen, muss sich der Gesellschaft dieser verachtungswürdigen Personen verweigern. Anstatt wie bisher Versuche zu machen, sich anzupassen und sich in dieser dummen Gesellschaft zurechtzufinden, muss man sich von ihr abwenden, den Kontakt mit den Mitmenschen auf das Geringste reduzieren, Verbindungen und Beziehungen durchtrennen, so wie man die Ankerkette eines Schiffes durchtrennt, damit das Schiff endlich frei ist und sich den Weiten des Meeres überlassen kann. Man muss das eigene Selbst aus allen Zwängen befreien.
Der Autor der Aufzeichnungen ist ein Griesgram, ein Menschenfeind, ein Eremit, ein Außenseiter. Er ist alles nur kein angenehmer Zeitgenosse. Mit ihm will man nicht zusammensitzen, eine Flasche Wein trinken und sich unterhalten. Er will es eigentlich auch nicht, da er nicht gern mit anderen Menschen Zeit verbringt. Vielmehr bevorzugt er es, seine Zeit im Abseits zu verbringen, wo er nicht gestört wird und sich den Mitmenschen nicht stellen muss. Aber hin und wieder kommt es dann doch dazu, dass er die Gesellschaft anderer sucht und sich auf eine Unterhaltung einlässt. Das Miteinander kann er nicht ganz hinter sich lassen, auch wenn er es meistens verabscheut. Natürlich geht ein solches Treffen nicht ohne Probleme vonstatten. Die Feindseligkeit des Außenseiters gegenüber den anderen lässt sich nur kurze Zeit im Zaum halten, seine tief verwurzelte Abneigung strebt mit viel Kraft an die Oberfläche und auf die Bühne. Schnell kommt es zum Streit, zu Anfeindungen und Beleidigungen. Das Zusammensein verwandelt sich in eine Konfrontation, in der sich der Außenseiter misshandelt und missachtet fühlt, woraufhin er wütender und starrköpfiger wird.
Fjodor Dostojewski schrieb keinen Roman über einen Misanthropen, sondern lässt einen Misanthropen zu Wort kommen. Es sind die Aufzeichnungen aus seiner Feder, er sagt mit seinen Worten, wie wenig er von den anderen Menschen hält, wie furchtbar ihm die Menschheit erscheint. Es gibt keine Handlung im Sinne eines Romans, aber ein paar Episoden, die berichtet werden in den geladenen Worten des Autors. Nicht um Beschreibungen bemüht, sondern mit der Absicht, sich Luft zu verschaffen und die Ungerechtigkeit in dieser hässlichen Welt offenzulegen, werden die Aufzeichnungen geschrieben. Ihr Ton ist hysterisch und aggressiv, mitunter verzagt. Dostojewski ist der unangefochtene Meister der verrückten, eigensinnigen Charaktere und in den Aufzeichnungen lässt er die Persönlichkeit des Protagonisten direkt auf den Leser los, ohne die schlichtende Instanz des Erzählers. Die Sprache ist entsprechend intensiv und bewegend, wird nur selten durch sanfte Töne geglättet.
Felix Philipp Ingold übersetzte den Text von Dostojewski neu und verpasste ihm einen neuen Titel. Bisher war das vorliegende Buch unter den Titeln Aufzeichnungen aus dem Kellerloch oder Aufzeichnungen aus dem Untergrund bekannt. Der neue Titel verdeutlicht nun, dass es sich bei dem Ich-Erzähler der Aufzeichnungen um jemanden handelt, der am Rande der Gesellschaft steht, sich aber nicht in einem politischen Untergrund befindet oder von größter Armut geplagt in einem dreckigen Kellerloch leben muss. Die Anpassung des Titels spiegelt somit eine Präzisierung wieder, die auf unserem aktuellen Sprachgebrauch fußt und der zentralen Lebensanschauung des Erzählers Rechnung trägt.
Im Anschluss an den Text von Dostojewski findet der Leser Ergänzungen von Felix Philipp Ingold, in denen er weiterführende Erklärungen zur Bedeutung des Textes und zu seinem Kontext gibt. Er erläutert anschaulich und verständlich die Gegensätze, durch welche der Protagonist bestimmt wird und die ihren Ursprung in philosophischen Debatten haben, die auch heute noch interessant sind. Zudem wird die Rolle der Aufzeichnungen im Verständnis des Gesamtwerks angesprochen, was für Liebhaber der Literatur Dostojewskijs besonders reizvoll ist.
Felix Philipp Ingold ist ein ausgezeichneter, preisgekrönter Autor und er hat mit der vorliegenden Neuübersetzung der Aufzeichnungen einen wichtigen Beitrag geleistet, unsere Aufmerksamkeit auf ein Werk zu lenken, das meist wenig Erwähnung findet im Angesicht der großen Romane Dostojewskijs. Man ist ihm zu Dank verpflichtet.
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