Plädoyer für mehr menschliche Nähe
Justine ist jung und voller Empathie. Sie arbeitet in einem kleinen Altenheim im französischen Städtchen Milly. Dort findet Justine, was sie in ihrem Zuhause vermisst: Menschliche Wärme. Seit einem tragischen Unfall, der ihre Zwillingssöhne und deren Ehefrauen in den Tod riss, kümmern sich Justines Großeltern um die beiden Enkelkinder. Justine und Jules sind zwar Cousine und Cousin, wachsen aber wie Geschwister auf. Jules kann nicht verstehen, dass Justine sich mit den alten Leuten abgibt und ihre Bestimmung in Milly findet. Er will das Dorf und die gemütskranken Großeltern hinter sich lassen und Architektur studieren. Justine lässt sich nicht beirren. Sie findet insbesondere zur alten Hélène einen Zugang und erfährt von ihr nach und nach mehr über deren Lebensgeschichte. Sie hört von der jungen Schneiderin Hélène, die trotz aller Bemühungen nie lesen lernt, bis der attraktive Lucien in ihr Leben tritt. Lucien, der aus einer Familie mit Blinden stammt und überzeugt ist, selber irgendwann das Augenlicht zu verlieren, erschließt Hélène die Welt der Worte mittels Blindenschrift. Auch dafür liebt die junge Frau ihn von Herzen. Hélène und Lucien können sich von ihren jeweiligen Zwängen befreien und finden ihre Zukunft in einem kleinen Café. Bis Lucien in die Hände der Nazis gerät und deportiert wird. Hélène leidet unter dem Verlust und zieht sich mehr und mehr in sich selber zurück. Bis es Justine gelingt, die Tür zu Hélènes Welt wieder leicht zu öffnen. Doch auch die junge Justine muss sich den Geistern der Vergangenheit stellen. Sie will wissen, was zum Unfall führte, der ihr und Jules die jeweiligen Eltern nahm.
Valérie Perrin widmet sich ganz dem Genre der in einem leichten Plauderton erzählten französischen Romane, die jedoch über einen tiefsinnigen Hintergrund verfügen. Ihre Geschichte plätschert zunächst leicht vor sich hin, nimmt aber bald schon Fahrt auf, wenn man es versteht, zwischen den Zeilen zu lesen. Sowohl die Geschichte der Protagonistin, Justine, als auch jene von Hélène spitzen sich bald schon zu und nehmen den Leser auf subtile Art gefangen. Es fällt beiden Hauptfiguren leicht, sich in den Herzen der Leser breit zu machen. Beide haben auf eine liebenswürdige Art ihre Schrulligkeit und es fällt nicht schwer zu erkennen, welche großartige Charaktere sich hinter den Fassaden der jungen Mädchen (und später der alten Frau Hélène) verbergen. Valérie Perrin verwebt die Geschichten der beiden sehr geschickt zu einem wunderbaren Ganzen.
Letztlich wird der Roman die Leser nicht unberührt zurücklassen. Auch wenn die eine oder andere Wendung durchaus etwas klischeehaft ist und gut absehbar war, so mag man sich doch ganz auf das Geschehen einlassen und sich von den beiden Schicksalen mitreißen lassen. Vieles löst ein Schmunzeln aus, manches ein Nachdenken. So hat die Autorin sehr schön die Einsamkeit einiger Altenheim-Bewohner dargestellt und hebt den Mahnfinger, sich mehr um seine betagten Familienmitglieder zu kümmern, ohne dass sich die Leser belehrt vorkommen. So finden sich nebst den beiden eigentlichen Erzählsträngen noch viele kleine Szenen eingestreut, die dem Roman eine höchst liebenswerte Note verleihen. Mit „Die Damit mit dem blauen Koffer" hat Valérie Perrin ein eindrückliches Debut hingelegt, das auf mehr hoffen lässt.
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