Postkarten eines literarischen Ausflugs
Jan Wagner ist der erfolgreichste deutsche Lyriker unserer Zeit, doch er kann auch Prosa, wie der neue, nun vorliegende Band belegt und dem Leser auf vielfältige Weise vor Augen führt. Mit unvergleichlicher Sicherheit und Leichtigkeit im Umgang mit der Sprache zeigt Wagner sein Können, gibt Einblicke in seine Gedankenwelt und sein Schaffen. Dabei kann der Leser stets etwas lernen, muss hin und wieder aber auch auflachen, da der Autor es nicht an Humor fehlen lässt, und staunt mitunter über die interessanten Gedankengänge, die sich langsam und selbstsicher vor ihm entfalten. Es beeindruckt nicht nur die feine Sprache, sondern auch das fundierte Wissen über Poesie und Poeten, Personen und Persönlichkeiten, Bücher und Bücher über Bücher. Es ist ein schmaler Band mit sehr unterschiedlichen Texte, die jedoch eins gemeinsam haben: Sie sind allesamt unterhaltsam und interessant. So beiläufig ist die Prosa nicht, wie man aufgrund des Untertitels annehmen mag, sie ist vielmehr gut überlegt und mit Geduld ausgearbeitet. Beiläufig bezeichnet nur die Entstehungsgeschichten und die Formate. Literarische Postkartensammlungen aus Los Angeles, Rom und Neukölln gesellen sich zu Dankesreden bei Preisannahmen und Lobpreisungen vergangener Dichterkollegen, dazwischen Reflexionen über die italienische Gelassenheit, die Geselligkeit in Irland und Hechtherzen, die aus dem Leib gerissen wurden. Natürlich fehlen auch Edgar Allen Poe und Pierre Menard nicht.
Postkarten kann jedermann schreiben, aber Jan Wagner schreibt sie einfach interessanter. Aus Los Angeles berichtet er von den Obdachlosen, die in den sonnigen Ruinen vergangener Hollywood Studios hausen, oder von öffentlichen Fitness Studios, die dem einstigen österreichischen Gouverneur Floridas zu verdanken sind. Er lenkt den Blick des Lesers auf die Besonderheiten der lokalen Kultur, aber auch auf die unscheinbaren Figuren am Rand, die oft und gern übersehen werden. Dadurch vermittelt er einen lebendigen und abwechslungsreichen Eindruck der Orte und seiner Bewohner. In Neukölln sieht er An- und Verkauf, Wohnungsauflösungen und Entrümpelungen, Sesamkringel und tiefergelegte Autos, Müllmänner in ihren leuchtenden Overalls und eine orangene Gerbera für Barbara. Herrlich, geradezu göttlich bunt ist es in Neukölln und alles wäre noch schöner, wenn es Rhabarber gäbe, Rhabarber für Barbara, aber leider, Barbara, gibt es keinen Rhabarber mehr. Und so geht es immer weiter durch den beliebten Berliner Bezirk, durch seine Tierwelt und Wolkenlandschaften. Alles wird gut, Barbara, da Lyrik und Prosa sich aneinander schmiegen.
Am Ende der Schulzeit, nach bestandenem Abitur, ist es üblich, den abgehenden Schülern ein paar weise Worte mit auf den Weg zu geben, damit sie ihnen helfen mögen im neuen, nun wirklich ernsten Lebensabschnitt. Als Vorbereitung auf die neuen Herausforderungen, als philosophische Hilfestellung. Wer besonders viel Glück hat, dürfte diese Rede aus dem Munde Wagners vernehmen und als Eröffnung sogleich die Schilderung eines Albtraums hören, in dem der Redner von einer furchtbaren Situation in der Schule redet, sich somit zu den jungen Abiturienten gesellt und sich mit ihnen gemein macht, um dann elegant überzuleiten zu den Zeiten des Lebens, die unterschiedlich lang sind. Vierzig Minuten spricht er zu den Jugendlichen, vierzig Minuten brauchte ein australischer Schermeister, um ein geflohenes, verwildertes Schaf zu scheren und um zweiundvierzig Kilo Wolle zu erleichtern. Man schaut auf die Zeit zurück, in der Jugend aber viel lieber voraus. Emily Dickens war die Zeit kurz wie ein Kittel, dem Heiligen Augustinus etwas unerklärliches und Baudelaire der Anlass, trunken zu werden. Dann bleiben Wagner noch zwanzig Minuten zu sprechen, so wie dem Herzen eines Hechts noch zwanzig Minuten blieben, wenn man es aus dem Leibe schnitte.
Neben verschiedenen, sehr unterhaltsamen Texte, die einen leichtfüßigen und beiläufigen Charakter haben, widmet sich der der Autor aber auch dem Wesen der Poesie. Er schlägt einen Bogen zum Ursprung des Krimis, erklärt den verschlossenen Raum bei Poe zum Verwandten der Gedichte. Ein Rätsel, das zum Staunen einlädt, zum Nachdenken und Experimentieren mit der Vorstellungskraft. Ergänzt werden solche Erläuterungen durch einen Exkurs in die Welt der multiplen Poeten, die unter verschiedenen Namen veröffentlichen und sich auf diese Weise bestimmte Freiheiten nehmen. Natürlich gehört auch Jan Wagner zu dieser illustren Gruppe, darüber gibt er Aufschluss, legt dem Leser dar, welche Dichter in ihm hausen und sich seines Stiftes bemächtigen.
Die vorliegende Textsammlung ist so bunt und vielfältig wie sie klug und leicht ist. Prosa als kleines Beiwerk des Lyrikers Wagner ist lesenswert und dringend zu empfehlen, für Kenner und diejenigen, die es noch werden.
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