Alles auf Sieg setzen?
Richard Kraft glaubt an sich und seine Fähigkeiten. Er ist ein energischer und ambitionierter Mann, Professor für Rhetorik an der Universität Tübingen und in der Lage, jede Diskussion auf elegante und beeindruckende Art zu gewinnen. Ausdrucksstark und intelligent, meistens provokant, um sich von der Masse der ordinären Intellektuellen abzuheben, mit denen er nicht verwechselt werden will, denn er ist einzigartig und herausragend. Schon als junger Mann hatte er Ehrgeiz und ein gesundes Vertrauen in sich selbst. Von den Kommilitonen in der Universität wollte er lieber bewundert und gefürchtet werden, als sich mit ihnen gemein zu machen und in ihrer Masse unterzugehen. Es war ihm recht, sich durch eine unbarmherzige, neoliberale Politikauffassung unbeliebt zu machen, nur um sich zu unterscheiden und herauszuheben. Außerdem passte die Idee vom rücksichtslosen Gewinnstreben zu seinem Ehrgeiz und Egozentrismus.
Einige Jahrzehnte später glaubt Richard Kraft, immer noch derselbe zu sein. Seine Ansichten bezüglich der Welt, den Menschen und seiner eigenen Person haben sich nicht geändert, will er sich einreden. Doch es kommen ihm Zweifel.
In Kalifornien sitzt er an einem Schreibtisch in der Hoover Institution on War, Revolution and Peace und grübelt. Viel Zeit bleibt ihm nicht mehr, um aus seinem sonst so brillanten und gut funktionierendem Kopf eine Idee zu bergen, die besser ist als die Ideen der anderen Mitstreiter. Kraft nimmt an einer Ausschreibung teil. Eine etwas alberne Ausschreibung, aber mit einem ansehnlichen Preisgeld versehen. Dem Gewinner winkt zur Belohnung für die überzeugendste und beste Idee eine satte Million. Das ist viel Geld für Kraft, der zwar über ein ordentliches Gehalt verfügt, sich aufgrund verschiedener Verwicklungen in der Vergangenheit aber auch viele Kosten verursacht hat. Demnächst werden seine Kosten wieder steigen und seine finanzielle Situation wird unangenehm werden. Deshalb die Million. Deshalb nimmt er an diesem albernen Wettbewerb teil und sitzt am Schreibtisch, grübelt und wird unruhig. Er muss gewinnen, muss die Million kassieren, wenn er nicht in Schwierigkeiten geraten will. Nur mit der Million im Gepäck kann er wieder zurück nach Deutschland, sich frei kaufen und seinen bisherigen Lebensstil weiterführen. Der Druck ist groß, aber daran ist Richard Kraft gewöhnt. Es sollte alles kein Problem sein. Doch will Kraft nicht die Idee kommen, mit der er gewinnen und abkassieren kann.
Das Thema kann nicht das Problem sein. Man soll erklären, warum alles gut sei und immer noch besser werden könne. Das ist nicht weit von Krafts neoliberaler Einstellung entfernt. Alles kann immer besser werden, jeder kann immer mehr verdienen, Kraft kann immer besser und klüger werden. So hatte er doch immer argumentiert.
Meistens wirkt Kraft nicht wie jemand, der einen Wendepunkt in seinem Leben erreicht hat und dabei ist, seine Sicht der Dinge zu ändern, sondern vielmehr wie jemand, der den entscheidenden Wandel im Leben schon hinter sich hat und mit verklärtem Blick auf sein früheres Ich schaut. In der Regel fehlt ihm jene raubtierhafte Stärke, die ihn durch den Dschungel des Lebens tragen und seine Feinde das Fürchten lehren soll. Schwach und unsicher wirkt Richard Kraft, ausgezehrt von seinen Fehltritten und Niederlagen. Er ist mehr um Schadensbegrenzung bemüht, als dass er sich in die Schlacht wirft und den Sieg erringen will.
Richard Kraft muss nicht nur an seiner Weltsicht, sondern auch an sich selbst zweifeln. Das Bild, das er von sich hatte, gerät ins Wanken. Kraft als Schmied seines Glücks und Schicksals wird verdrängt von Kraft, dem Intellektuellen, der sich selbst und andere überzeugen kann, im Privaten aber scheitert. Die Erinnerungen an seine vergangenen Liebschaften und Ehen sind dabei Dreh- und Angelpunkt. An ihnen zeigt sich seine Inkompetenz und seine Fehlbarkeit.
Kraft ist ein packender und unterhaltsamer Roman, der einen Lebensentwurf auseinandernimmt und ihn in Frage stellt. Richard Kraft ist Zeitgeist und steht als Sieger der Geschichte da, schließlich sind der Ostblock und mit ihm die Ideen vom sozialistischen Miteinander zusammengebrochen. Durchgesetzt haben sich der Kapitalismus, der Konsum und das Gewinnstreben. Der Einzelne kann ungehindert nach der Entfaltung seiner Möglichkeiten streben und muss keine Rücksicht nehmen. Jeder ist sich selbst der Nächste. Ganz im Sinne Krafts. Doch lässt mit den Jahren die Verzauberung dieser freiheitlichen Ideen nach.
In gewaltigen, mitunter ungelenken Sätzen bringt Jonas Lüscher dem Leser das Innenleben seines Protagonisten näher, gibt Einblicke in eine unruhige Gefühlslage und einen wachen Geist. Dabei zeigt er viel Geschick in der Konstruktion prekärer, herausfordernder Situationen, in denen Richard Kraft nicht Herr der Lage ist und sich an die eigenen Grenzen gebracht sieht. Dank dieser unruhigen Szenen wird das Thema des Buches eindringlich vermittelt und muss sich nicht als bloßes Gerüst aus dem Studierzimmer durchschlagen. Kraft sieht einen Live-Stream mit zwei unschuldigen Mädchen, die sich gegenseitig die Haare kämmen, und einem Nicki Minaj Poster im Hintergrund, auf dem der überaus runde Hintern der Sängerin zu sehen ist, wie er über den Köpfen der Mädchen schwebt. Eine neue App soll das Gezeigte analysieren und den Stream möglichen Usern vorschlagen. Sogleich verspürt Kraft ein Unwohlsein und kann sich nicht für die technischen Neuerungen der App interessieren. Seine beiden Töchter sind ungefähr im selben Alter wie die beiden Mädchen im Stream, die vielleicht bald von Männern kontaktiert werden, die runde Hintern im Live-Stream suchen.
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