Die wundersame Rede
Antonius liegt sterbend auf dem Platz vor dem Kloster in Arcella. Dreitausend Menschen sehen ihm dabei zu. Sie wollen sehen, wie ein Wunder geschieht. Denn Antonius ist kein gewöhnlicher Mensch, sondern ein Heiliger. Sie wollen sehen, wie ein Heiliger stirbt, wie Gott ihn zu sich holt. Einfache Menschen haben sie schon sterben sehen. Sie selbst sind einfache Menschen, sind ihr Leben lang von einfachen Menschen umgeben und von Wundern weit entfernt. Nun aber bietet sich ihnen die Möglichkeit, etwas außergewöhnliches zu beobachten. Der heilige Antonius ist anders als sie. Er hat Wunder bewirkt und wird in die Geschichte der Kirche und Menschheit eingehen. Er ist größer und wichtiger als die einfachen Leute, ein herausragender Mann. Nun wollen sie sehen, wie es ist, wenn einer wie er die Welt der Lebenden verlässt. An einem göttlichen Zeichen wollen sie teilhaben. Etwas, das ihrem Dasein mehr Glanz und Bedeutung verleiht, von dem sie später erzählen können. Dieser besondere Moment, da ein Heiliger zu Gott in den Himmel aufstieg und sie Zeuge des Wunders waren.
In seiner Jugend war Antonius hochmütig und eitel. Er ließ sich verleiten von seiner Fähigkeit, lange und komplizierte Textpassagen der heiligen Schriften ohne Probleme auswendig lernen zu können. Diese Eigenschaft gab ihm stets einen großen Vorteil in Diskussionen mit den Brüdern des Klosters. Er wusste immer eine Antwort, konnte immer eine entsprechende Stelle der Bibel oder aus den überlieferten Werken der Heiligen zitieren, um seinen eigenen Punkt zu stärken oder das Argument seines Gegenüber zu entkräften. Er hatte immer das letzte Wort, war aber noch ein Jüngling unter alten Männern, die ihr Leben dem Kloster und dem Studium gewidmet hatten. Das brachte ihm viel Abneigung ein. Schließlich stellte er die alten Männer und ihr Wissen in Frage. Es schien so, als ob er ihre Würde und Stellung untergraben wolle. Er war ein ungezogener Besserwisser. Mit unglaublichem Talent, das Ablehnung, aber auch Bewunderung hervorrief. Denn natürlich waren die Brüder beeindruckt von ihrem jungen Plauderer. Nur zugeben konnten sie es nicht. Das Leben im Kloster und für Gott beruhte letztlich nicht auf Talent, sondern auf Hingabe, Bescheidenheit und Tüchtigkeit. Und die Hierarchie zwischen den Klostermauern musste eingehalten werden. Der junge Antonius musste noch viel lernen.
Einige Stunden vor seinem Zusammenbruch hatte der heilige Antonius noch eine Predigt gehalten. Er hatte das Wort noch einmal an die Gläubigen und Schaulustigen gewandt, obwohl er bereits schwach war. Doch worüber hatte er gesprochen? Die einen sagen, das Thema seiner Predigt seien die Gottessöhne gewesen. Theologische Haarspalterei, völlig uninteressant, darüber habe er nicht wirklich gesprochen, sagen andere. Sie hörten, wie er lang und ausführlich über die Mongolen und die Türken philosophierte, über die Bedrohung, die sie für das christliche Abendland darstellen, und über den Hass, der zwischen den Völkern herrscht. Über die Liebe habe der heilige Antonius gesprochen, sagen wiederum andere.
Eine zweite Begabung des Antonius war seine Rede, die von jedem verstanden und gehört werden konnte. Das konnte soweit gehen, dass er vor einem internationalem, mehrsprachigen Publikum die Predigt hielt und von allen verstanden wurde. Intuitiv verstanden sie ihn, erlagen der Magie seiner Worte.
Michael Köhlmeier hat mit seinem schmalen Buch über einen Heiligen durchaus interessante Themen von aktueller Bedeutung aufgegriffen. Auf den ersten Blick mag es nicht so wirken, aber der historische Stoff des heiligen Antonius in Köhlmeiers Verarbeitung ist im heutigen Kontext einige Betrachtungen und Überlegungen wert. Die Wirkung, die der Prediger auf andere Menschen, auf Klosterbrüder und Anhänger, ausübt, wirft Fragen über unsere Wahrnehmung auf und über unsere Reaktionen gegenüber geliebten und ungeliebten Meinungen, über unsere Eigenschaft, unser eigenes Weltbild in den Aussagen anderer wiederzufinden. Der Erfolg des Antonius begründet sich auf einen grundlegenden Wandel, der den jungen Klosterbruder vom alten Prediger unterscheidet. Während der junge Antonius als Besserwisser nicht unter seinesgleichen beliebt war, gelang es dem wundersam predigenden Antonius im fortgeschrittenen Alter, seine Mitmenschen zu bezaubern. Der Eine erwiderte stets etwas Kluges, der Andere sprach aus, was die Zuhörer hören wollten und gewann sie für sich. Jedermann verstand ihn und fand etwas Gutes in seinen Worten, etwas, was er oder sie hören wollte.
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