Eve antwortet: ‚Gott ist weder weiblich noch männlich, sondern beides. Doch jetzt zeigt Sie uns eine neue Seite an sich, eine, die wir viel zu lange ignoriert haben.‘
Auf der ganzen Welt entwickeln junge Frauen die Gabe, Elektrizität aus ihren Händen abzugeben. Auf einmal ändert sich das weltweite Machtgefüge und Frauen werden erstmals nicht als das schwächere Geschlecht wahrgenommen. Doch nicht jede nutzt diese Gabe, um Gutes zu tun, und schon bald sind es die Männer, die gegen Unterdrückung und Ungleichheit zu kämpfen haben.
„Jungen wurden mit speziellen Bussen in nur für sie bestimmte Schulen transportiert.“
Naomi Aldermans Roman ist ein gesellschaftskritisches Werk, das aufgrund der #MeToo-Bewegung aktueller ist denn je. Gleichzeitig lässt sich der Roman vermutlich in jede Epoche transferieren, da schon immer Frauen um Gleichberechtigung zu kämpfen hatten. Alderman greift dieses Thema auf, indem sie ihnen eine Gabe verleiht, die sie physisch stärker als Männer werden lässt. Man begleitet unterschiedliche Frauen in verschiedenen Teilen der Welt, wie sie ihre neuentdeckte Gabe erhalten und sich diese auf ihr Leben auswirkt. Da wäre Roxy, Tochter eines Gangsterbosses, deren Mutter vor ihren Augen ermordet wird und die nun auf Rache sinnt. Oder Allie, die von ihrem Adoptivvater regelmäßig vergewaltigt wurde, diesen mit einem starken Stromschlag tötet, und sich nun, auf der Suche nach einer neuen Identität, auf der Flucht befindet. Vor allem ihre Geschichte fand ich sehr spannend ausgearbeitet, da sie durch ihre Entwicklung einen enormen Einfluss auf Frauen der ganzen Welt ausübt. Als sie schließlich zu ihrem Glauben findet, ermöglicht dies einen ganz anderen Blickwinkel auf die verschiedenen Religionen weltweit. Sie prangert die von Männern dominierten Dogmen an, die von ihnen ausgerufenen Glaubenskriege und dass die verschiedenen Götter in der Regel als männlich wahrgenommen werden. Ihre Erkenntnisse und Schlussfolgerungen machten sie für mich zur interessantesten Figur.
Doch auch einen Mann darf man begleiten: Tunde ist ein junger Journalist, der von Land zu Land reist und die Vorkommnisse dokumentiert, sodass man ein klareres Bild darüber erhält, wie sich die Gabe auf verschiedene Gesellschaften auswirkt. Dabei begegnet er viel Schmerz und Unterdrückung und muss erleben, wie sich diese in Wut umwandelt.
Unterteilt ist der Roman in Unterkapitel, die aus der jeweiligen Sicht abwechselnd von verschiedenen Personen erzählt werden. Diese wiederum sind in Kapitel unterteilt, die jährlich runtergezählt werden, beginnend mit „Noch zehn Jahre“. Dadurch wird ein durchgehender Spannungsbogen aufrechterhalten, der dem Leser beim letzten Kapitel „Es geht los“ ein Showdown verspricht. Umso enttäuschender, dass dieser ausblieb. Stattdessen hatte ich das Gefühl, mit dem Ende in den Seilen zu hängen, da es für mich keinen Knall gab, der den ganzen Buchaufbau erklärt hätte. Natürlich habe ich nicht erwartet, dass mit Beenden des Buches der weltweite Konflikt gelöst werden würde. Aber auf so ein seichtes Ende war ich dann doch nicht vorbereitet.
Trotz allem besticht „Die Gabe“ durch ein faszinierendes Gedankenexperiment und interessant ausgearbeitete Protagonisten, die gegen unterschiedliche Widerstände zu kämpfen haben. Da Alderman einige Charaktere einführt, die berechtigterweise ihre eigenen Geschichten zu erzählen haben, war es schwer, sich auf einzelne verstärkt einzulassen. Solche, die weniger interessant waren, waren dann schnell vergessen, wenn diese mitunter fünfzig Seiten später erneut in Erscheinung traten. Dazu kommt, dass diese sich natürlich aufgrund der Jahressprünge von Kapitel zu Kapitel enorm entwickelt hatten. Ab und zu war ein Zurückblättern nötig, um die Person wieder ins Gedächtnis zu rufen.
Fazit:
„Die Gabe“ ist ein Roman mit dem man sich kritisch auseinandersetzen und reflektierend auf die heutige Gesellschaft blicken sollte. Aufgrund des konstanten Spannungsbogens war das Buch gut zu lesen, überzeugte jedoch weniger durch ein unpassendes Ende und zu viele Charaktere.
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