Die letzte Reise der Meerjungfrau

Die letzte Reise der Meerjungfrau
Die letzte Reise der Meerjungfrau
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Julian Hübecker
901001

Belletristik-Couch Rezension vonJun 2018

„Geld. Wenn Sie fragen, ob ich all mein Tun selbst bestimme, so sage ich Nein. Ich werde vom Geld geleitet.“

Was bedeutet es, glücklich zu sein? Ist es Geld? Die gesellschaftliche Stellung? Oder reicht es, Menschen um sich zu haben, auf die man sich verlassen kann? Jonah Hancock und Angelica Neal kommen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und streben nach verschiedenen Vorstellungen des Glücks. Doch beide müssen herausfinden, dass ihre Träume der Realität nicht standhalten können.

Eine spannende Geschichte, die ihren Anfang bei einer toten Meerjungfrau findet

Eine Erzählung in drei Bänden – so wird das Werk von Imogen Hermes Gowar eingeleitet. Sie spielt im London des ausgehenden 18. Jahrhunderts; einem Jahrhundert, in dem erstmals Australien besiedelt wurde, wo merkwürdige Geschöpfe ihren Weg nach Europa fanden, wie das Känguru - und eben auch die sagenhafte Gestalt der Meerjungfrau ihren Weg in das Büro des Kaufmanns Jonah Hancock findet.

Wer aber nun meint, das Buch sei ein Abenteuerroman mit einer Suche nach dem großen Unbekannten, der irrt. Vielmehr porträtiert die Autorin das gesellschaftliche Leben in London und schafft damit etwas Außergewöhnliches.

Zentrale Figur ist der fünfundvierzigjährige Jonah Hancock, der als Kaufmann Zeit seines Lebens kein großes Vermögen anhäufen konnte. Während seine Schwester vermögend heiraten konnte und einige Kinder in die Welt setzte, trauert er noch immer um seine verstorbene Frau und seinen toten Sohn. Den einzigen Lichtblick bietet seine Nichte Sukie, die bei ihm wohnt, um sich schon mal als Hausfrau zu üben. Dennoch scheint eine ständige Melancholie von ihm auszugehen, bis eines Tages der Kapitän eines von ihm angeheuerten Schiffes auftaucht, um ihm eine tote Meerjungfrau zu präsentieren. Da fast sein ganzes Vermögen für diese Kuriosität draufging, war er zu Anfang nicht begeistert, doch als schließlich Mrs. Chapell, Betreiberin eines Freudenhauses, ihm eine stattliche Summe bietet, um diese Meerjungfrau ausstellen zu dürfen, scheint Mr. Hancock ein gemachter Mann zu sein.

Gleichzeitig hadert die Edelkurtisane Angelica Neal mit sich und ihrer Zukunft. Nachdem ihr großzügiger Gönner verstarb, sieht sie sich mit der Entscheidung konfrontiert, wieder für Mrs. Chapell zu arbeiten oder sich einen neuen Mann zu suchen, der sie finanzieren kann. Da sie ihre neu gewonnene Freiheit nicht aufgeben will, fühlt sie sich zu Letzterem gezwungen – ganz zum Leidwesen von Eliza, ihrer Haushälterin, der die schrumpfenden Ersparnisse Sorgen bereiten. Eines Tages will es das Schicksal, dass Jonah und Angelica sich begegnen - sie der Verzweiflung nah, er im Zustand höchsten Glückes. Doch scheint dieses Glück nur von kurzer Dauer zu sein.

Ein grandioses Erstlingswerk, das von großer Erzählkunst zeugt

Im Fall des Werkes von Imogen Hermes Gowar hält die wunderschöne Aufmachung, was sie verspricht: eine ebenso großartige Geschichte. Dieses Buch kommt einem Meisterwerk nahe, da es vor Sehnsüchten und Wünschen strotzt, die die Menschen beschäftigen. Dabei versteht sich die Autorin darauf, diese in eine eindrucksvolle Geschichte zu verpacken und den Leser in eine lebendige Vergangenheit zu entführen: Ob man nun mit Mrs. Neal durch die Innenstadt flaniert und die süßen Gebäcke der Kaffeehäuser genießt (die im Übrigen detailreich und genussvoll beschrieben werden), oder Mrs. Chappells Edelbordell besucht, dessen Prunk und Protz über die Sorgen und Nöten der Mädchen hinwegzutäuschen versuchen. Besonders die Stellung der Frau im 18. Jahrhundert wird fein herausgearbeitet. Entspricht diese zum Großteil der Lesererwartung, stellt es sich allerdings als überraschend dar, wie sie mit ihren weiblichen Reizen das vermeintlich stärkere Geschlecht unterwerfen. Und obwohl Mr. Hancock eher von verschlossenem Charakter und Mrs. Neal von extrovertierter, kindlicher Natur ist, wirken die Charaktere nicht künstlich überzeichnet, sondern haben trotz ihrer Schwächen einen eigenen Charme.

Wie vermutliche viele Leser, habe ich mir zu Anfang etwas anderes unter diesem Buch vorgestellt. Ich hatte an eine abenteuerliche Reise einer Meerjungfrau gedacht, die über ganz Europa hinweg die Menschen in Staunen versetzt und Mr. Hancock zu einem vermögenden Mann macht. Wer so etwas erhofft, dem sei dringend abgeraten, mit dieser Erwartung an die Geschichte heranzugehen, denn diesem Buch fehlt es eindeutig an Spannung – weshalb ich einen Punkt abgezogen habe. Doch obwohl die Meerjungfrau keine zentrale Rolle spielt, lenkt sie dennoch das Schicksal einiger Menschen – ob nun zum Positiven oder Negativen.

Fazit:

Obwohl es an Spannung fehlt, gewinnt die Geschichte ungemein an Tiefe aufgrund der Fähigkeit der Autorin, Geschriebenes lebendig werden zu lassen. Ich habe das Buch durchgehend genossen und kann es kaum erwarten, wieder etwas von ihr zu lesen.

Die letzte Reise der Meerjungfrau

Imogen Hermes Gowar, Lübbe

Die letzte Reise der Meerjungfrau

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