Der Alltag und die Banalität
In Main Street, erstveröffentlicht in den USA im Jahr 1920, bezieht sich Sinclair Lewis auf seine Kindheitserinnerungen an Sauk Centre in Minnesota. Der Roman liest sich als Satire über die US-Mittelschicht und ihren Wunsch nach Anpassung an ihr implizites Regelwerk. Wie jede gute Satire, behandelt auch Main Street seine Charaktere mit Zuneigung. Über diese Charaktere äußerte Lewis einmal, sie wollten etwas mehr erreichen als ein Auto und ein Haus, bevor es zu spät ist. Main Street wurde in den USA schnell ein Bestseller und ein öffentliches Ereignis. Heute ist der Text einer der großen Romane der Weltliteratur und ein kulturgeschichtliches Dokument.
Eine Satire über die Mittelschicht
Carol Milford Kennicott, Tochter eines Richters und Waise, ist verheiratet mit dem Arzt Will Kennicott aus der Kleinstadt Gopher Prairie im Mittleren Westen der USA. Carol ist eine idealistische und fantasievolle junge Frau, Absolventin des Blodgett College mit Zusatzausbildung als Bibliothekarin in Chicago und hat drei Jahre in Saint Paul, der Hauptstadt von Minnesota, gearbeitet. Sie hat Vorstellungen von einem aufregenden Leben in der Stadt, die jedoch flugs dahin sind, als sie mit Will nach Gopher Prairie zieht. Carol widersetzt sich dem spießigen Kleinstadtleben, das bestimmt ist durch kulturelle Leere und gesellschaftliche Zwänge, Heuchelei und Engstirnigkeit, Gerüchte und Geschwätz. Sie hat im College ein Buch über Stadtentwicklung gelesen und möchte das 3000-Seelen-Kaff voranbringen. Nach der Geburt ihres Kindes fühlt sie sich noch mehr eingeengt. Ihre Existenz ist bestimmt durch ihren Widerstand gegen Gopher Prairie und dessen Einwohner, später durch den Kampf mit ihrem Mann und ihre schlussendliche Entscheidung über ihr weiteres Leben.
Als Carol ihre Vorstellungen von Ortsentwicklung umsetzen möchte, verteilt sie in Frauenclubs Bücher und gibt eine Party. Unterstützung findet sie jedoch nur bei ein paar lokalen „Außenseitern“, die nicht einmal ansatzweise ihren eigenen Erwartungen entsprechen. So kommt es, dass Carol nicht wirklich Allianzen schmieden kann, um Gopher Prairie zu verändern. Erschwert wird ihr Wollen dadurch, dass sie kein Programm hat, keine durchdachten Vorstellungen von Veränderung, sondern sich durch Gefühle bestimmen lässt, die sie ihren Mitmenschen nicht vermitteln kann.
Carols beste „Freundin“ in Gopher Prairie ist die Lehrerin Vida Sherwin. Sie heiratet Raymond Wutherspoon und ist in ihrer Angepasstheit das Gegenstück zur Rebellin Carol. Der Anwalt Guy Pollock vertritt ähnliche Ansichten wie Carol, hat sie aber zu lange unterdrückt, als dass er ihr noch folgen könnte.
Eine Geschichte über gestern und heute
Insgesamt spricht Main Street die Leser an, nicht zuletzt, weil er bis in die Details hinein einen universellen Eindruck macht. Wer kennt sie nicht, die existenzielle Langeweile, das seltsame Gefühl, etwas verändern zu wollen aber nicht zu können, in einem Lebensumfeld, das durch und durch konservativ ist, auch wenn es sich für revolutionär hält, das sich als politischer Organismus darin erschöpft, über Missstände zu reden und ansonsten immer die gleichen Politiker zu wählen, auch wenn sie von Periode zu Periode andere Namen tragen. In Gopher Prairie sind das immer die Republikaner, weil sie Republikaner sind, weil man die Demokraten als sogenannte Linke nicht ausstehen kann, wodurch sie unwählbar sind.
Zugleich lustig und traurig, präsentiert der Roman eine durchschnittliche Kleinstadt seiner Zeit so genau, dass sich viele Menschen nebst ihren Lebensbedingungen darin wiederfanden. Sinclair Lewis erhielt als erster US-Amerikaner den Literaturnobelpreis, insbesondere für den 1922 erschienenen Babbitt. Wer Main Street (und Babbit) heute liest, wird vermutlich erstaunt feststellen, wieviel er auch über unsere Gegenwart – nicht nur in den USA - zu sagen hat.
Episodische Erzählweise – seinerzeit ein Novum
Mitunter wird Main Street als handlungsarm oder gar handlungsfrei bezeichnet. Dies dürfte daran liegen, dass Lewis keine durchgehende Geschichte erzählt, sondern Episoden. Diese sind verortet in rund zehn Jahren aus dem Leben seiner Protagonistin, die irgendeine Bedeutung erfahren möchte, woraus jedoch nichts wird. Ihr frustrierender Alltag ist frei von dramatischen Ereignissen, auch wenn gelegentlich etwas in diese Richtung angedeutet wird, so, wenn ein Baby als angehender sozialer Sprengsatz bezeichnet wird. Während Carol von einem besseren Leben träumt, hat ihr Mann Ambitionen, die er umsetzt. Dies fällt ihm als Arzt in einer Kleinstadt Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts um einiges leichter als seiner Frau.
Diese Art der Erzählung war zur Zeit der Veröffentlichung des Romans noch neu. Ähnlich gebaut ist auch Sherwood Andersons ein Jahr vor Main Street erschienener Winesburg, Ohio, der in lose miteinander verbundenen Short Stories eine Kleinstadt im Mittleren Westen der USA nebst ihren Einwohnern und deren Beziehungen episodisch seziert.
Wer den Blick von der Handlung allein auch auf die Sprache richtet, wird feststellen, dass Lewis ein hervorragender Schriftsteller ist, was die deutsche Übersetzung durchaus erkennen lässt.
Eine Frau versucht gegen den Wind zu spucken
Main Street handelt im Wesentlichen von einer intelligenten und ambitionierten jungen Frau, die Träume vom Leben hat und etwas verändern will, außerdem von Kleinbürgern und deren Leben in einem Kaff, dass hässlich ist, aber dadurch gewinnt, dass es hässlich bleiben soll. Anders als in Winesburg, Ohio, wo das wirkliche Leben immer woanders zu sein scheint, haben die Bewohner von Gopher Prairie nahezu alle das Leben, welches für sie erstrebenswert ist. Die Einwohner von Gopher City weisen eine kollektive Persönlichkeit auf, worüber bei wenigen Figuren gelegentliche Phantastereien über Individualität nicht hinwegtäuschen, eher bestätigend wirken.
Jahre später, 1938, erfahren wir in Thornton Wilders Theaterstück Unsere kleine Stadt, dass Kleinstadtbewohner viel über das Universum nachdenken. Davon sind die Bewohner Gopher Prairies noch ein ganzes Stück entfernt. Vielleicht erzählt Main Street davon, dass man trotzdem nicht aufgeben soll, auch wenn man einen Weg geht, auf dem einem niemand folgt.
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