Doktor Pascal
- Europäischer Literaturverlag
- Erschienen: Januar 2014
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Große Themen in großem Stammbaum
Mit der Familie Rougon-Macquart befasste sich Émile Zola in insgesamt zwanzig Bänden. Er schilderte die Höhen und Tiefen der illustren Familienmitglieder, ihre Verstrickungen untereinander und mit dem Schicksal Frankreichs. Ein kolossales Projekt, das die großen Zusammenhänge aufzeigen sollte, durch die das menschliche Schicksal im Großen und im Kleinen bestimmt wird. Eine Natur- und Sozialgeschichte sollte es sein, in der zwei Familien zusammenkommen, ihre physischen und gesellschaftlichen Merkmale miteinander vermengen und mit den Folgen kämpfen müssen. Doktor Pascal ist der Abschluss dieses voluminösen Zyklus und greift die zentralen Themen aus den vorangegangenen Bänden auf, um sie in einem finalen Akt auf den Höhepunkt zu treiben.
Doktor Pascal ist ein Mann der Wissenschaft, der mit seiner Haushälterin Martine und seiner Nichte Clotilde in einem ruhigen Landhaus lebt. Den Großteil des Tages verbringt der Doktor mit Studien zum Thema der Vererbung, er zeichnet Verwandtschaftsverhältnisse und auftretende Krankheiten auf, versucht zu analysieren, wann der Wahnsinn von den Eltern auf die Kinder übergeht, in welchen Fällen die Schwindsucht eine Generation überspringt und welche Rolle die natürliche Umgebung dabei spielt. Er forscht nach, macht Notizen, schreibt wissenschaftliche Artikel zu seinen Funden und zeichnet auch einen Stammbaum der eigenen Familie Rougon-Macquart. Er fasst also zusammen, was Émile Zola in zwanzig Romanen geschildert und veranschaulicht hat. Einen großen Überblick der Familiengeschicke, jedoch nicht erzählt, sondern sachlich und analytisch mit wissenschaftlichen Begriffen.
Zur Hand geht ihm seine Nichte Clotilde, sie fertigt Kopien und Zeichnungen an, bringt die eine oder andere Notiz in Reinschrift. Sie ist gewissenhaft und erledigt ihre Aufgaben vorbildlich, nur manchmal geht die Fantasie mit ihr durch und sie malt Blumen, die man in keinem Garten der Welt finden kann, da sie ausschließlich ihrer Fantasie entspringen. Ein junges, hübsches und verträumtes Mädchen ist sie. Gläubig außerdem. Das unterscheidet sie von ihrem Onkel Pascal, dem Mann der Wissenschaft. Zusammen mit der Haushälterin macht sich Clotilde gelegentlich Sorgen um das Seelenheil des Doktors, der nicht zur Kirche geht und mit Fakten die wunderbare, mysteriöse Welt Gottes entzaubern will. Die Schöpfung ist ein Akt Gottes und nur ihm vorbehalten, da erscheinen die Untersuchungen des Doktor Pascal anmaßend und frevlerisch.
Im Arbeitszimmer der beiden steht ein großer Eichenschrank aus dem vorigen Jahrhundert. In ihm sammeln sich alle Aufzeichnungen Pascals seit drei Jahrzehnten. Es ist der Ort, an dem das Wissen aufbewahrt wird, auf dass es eines Tages einen Beitrag leisten kann beim Voranschreiten der Menschheit. Der Schrank ist Fortschrittsglaube und Faktensammlung.
Doktor Pascal, Mann der Wissenschaft und der Arbeit, hat sich sein Leben lang geschont und seine Kräfte bewahrt. Ein Leben ohne große Leidenschaften hat er gelebt. Bis der Tag kommt, da er seine Zuneigung zu seiner Nichte Clotilde nicht mehr verheimlichen und verstecken kann. Ihre jugendliche Schönheit und Frische verzaubern ihn. Obwohl schon ein älterer Herr, lässt er sich von seinen Gefühlen übermannen und gibt sich der Liebe Clotildes hin, die sofort alle Hemmungen fallen lässt, da sie den Onkel schon immer verehrt hat.
Natürlich ist sie Sache ein Skandal. Aber im Städtchen ist man nachsichtig mit den beiden, da der Doktor allseits beliebt und gut angesehen ist. Schließlich hat er vielen, auch von den Armen, das Leben gerettet oder Leiden gelindert. Meist ohne Bezahlung, lediglich aus Nächstenliebe und der Verpflichtung der Medizin gegenüber. Außerdem gönnt man ihm das späte Glück in seinem sonst so kargen, arbeitsamen Leben.
Nur der Mutter bereitet die Angelegenheit schlaflose Nächte. Sie weiß, dass die Nachsicht der Leute irgendwann ein Ende finden und der Skandal sich in seiner gesamten Tragweite auswirken wird. Zum Wohl der Familie und ihres Ansehens will sie die beiden auseinanderbringen. Zudem will sie die Akten im alten Eichenschrank vernichten. Der Familienstammbaum mit den Nachweisen über Wahnsinn und Trinksucht ist ihr die größte Gefahr auf dem Weg zu ewigem Ruhm. Sie will der Familie ein Denkmal setzen. Dafür muss sie aber die schändlichen Texte ihres Sohnes vernichten. Deshalb redet sie Clotilde und auch der Haushälterin Martine ins Gewissen. Sie sollen ihr Zugang zum Schrank verschaffen, damit sie die Aufzeichnungen vernichten und die Seele Pascals retten kann.
Wissenschaft und Religion, Alter und Jugend, Sitte und persönliches Glück, falscher Ruhm und Ehrbarkeit, die Gesellschaft und die Natur, es treffen so viele große Themen in Doktor Pascal aufeinander, dass man sie kaum aufzählen kann. Es ist keine Detailarbeit, sondern der große Abschluss einer großen Serie. Die Familie Rougon-Macquart findet sich in der Liebe zwischen Pascal und Clotilde, sowie in jenem schweren Eichenschrank. Der Tod hält Einzug und neues Leben bahnt sich seinen Weg. Das Rad des Lebens dreht sich weiter und weiter.
Émile Zola, Europäischer Literaturverlag
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