Heimat als spiritueller Ort
James Baldwin hat sein Debüt „Go Tell it on the Mountain“ im Jahr 1953 mit Ende zwanzig als semi-autobiographischen Roman veröffentlicht. Das Buch erlebte 1966 in der Übersetzung von Jürgen Manthey bei Rowohlt seine deutsche Erstveröffentlichung als „Gehe hin und verkünde es vom Berge“. Kürzlich ist er in einer neuen Übersetzung von Miriam Mandelkow als „Von dieser Welt“ bei dtv herausgekommen.
Der vierzehnjährige Afro-Amerikaner John Grimes lebt in den 1930er Jahren mit seiner Familie in Harlem. Die Handlung erstreckt sich über ein Wochenende. Wir lernen außer John vor allem seine Mutter Elizabeth, seinen Stiefvater Gabriel und dessen Schwester Florence kennen.
Gabriels Weg war bestimmt durch wechselnde Beziehungen und den Versuch, einen Sohn zu bekommen. Seine erste Ehe mit Deborah blieb kinderlos. Esther, mit der er eine Affäre hatte, wurde schwanger und verließ Gabriel. Der ungestüme Sohn wurde von Weißen ermordet. Nach Deborahs natürlichem Ableben heiratete Gabriel Elizabeth, die aus einer Affäre schwanger war. Mit ihr bekam er Roy, den er aber nicht ausstehen kann, weil er ihm sehr ähnelt.
In der Ehe erreicht Elizabeths Leidensweg eine neue Qualität. Gabriel, der seinen Stiefsohn und seine Frau misshandelt, wird zum Prediger. Er sieht in John den Sohn, den er gerne gehabt hätte.
Gabriel hat auf Johns Leben und Entwicklung, über den Missbrauch und als die maßgebliche religiöse Instanz, den stärksten Einfluss. Er bestimmt durch seine Wutanfälle, Stimmungsschwankungen und Lieblosigkeit, wie John Religion wahrnimmt. In seinen Bemühungen, sich von Gabriel zu lösen, entwickelt John sich zu einem auf seine Intelligenz ausgerichteten Menschen. Sein Intellekt wird sogar von seinen weißen Lehrern anerkannt.
Der Roman hat seinen Originaltitel von dem Spiritual >Go tell it on the MountainGeh ruf es von den BergenGeh, ruf es auf dem BergeKomm, sag es allen weiter!
Die persönliche Glaubenserfahrung erfasst denn auch den zentralen Themenkomplex des Romans: Religiosität und Religion, problematische Beziehungen, Rassismus, Schuld. Der homosexuelle John durchläuft eine Wandlung hin zu einem Christen.
Der Text ist durchsetzt mit biblischen Bezügen, Bibelzitaten wie auch Übereinstimmungen von Charakteren mit biblischen Figuren. Religion wird positiv, so durch Elisha, Elizabeth und John, wie, besonders durch Gabriel, negativ verhandelt, und die Leser sind indirekt angehalten, sich Gedanken zu machen und eventuell zu positionieren.
Es wird deutlich, dass und warum der Glaube in den USA der Handlungszeit für Afro-Amerikaner eine so große Bedeutung hat. Dies nicht nur, weil er das Individuum in einer Gemeinschaft verortet, sondern auch, weil er das Leiden der Menschen an und in der Gesellschaft leichter zu ertragen hilft. Irgendwie leiden sie alle, und das nicht unerheblich. John unter seinem Stiefvater, Gabriel unter sich selbst, seinem überzogenen Stolz und Zorn, die Frauen unter Gabriel, Florence unter ihrem Stolz und ihren hohen Ambitionen, alle zusammen unter irgendeiner Schuld, die sie als Bürde mit sich durch das Leben tragen.
Der Roman besteht aus zwei Ebenen. Die Haupthandlung ist konzentriert auf den Geburtstag von John, während die zweite Ebene mehrere Jahrzehnte umspannt und das Leben von Johns Mutter, Tante, Vater thematisiert. Baldwin lässt so die Menschen hinter den Masken sichtbar werden. Indem er offenlegt, warum seine Figuren sich aus ihrer Entwicklung heraus wie verhalten und dies in die Gegenwartshandlung montiert, verstehen wir ihr Verhalten an Johns Geburtstag besser.
Baldwins Vorgehen emuliert auch die Art und Weise, wie Menschen einander kennen und verstehen lernen. Was im ersten Teil des Romans geschieht, ist schwer nachvollziehbar, solange wir die Vergangenheit der Figuren nicht kennen. Über die Figuren hinaus ist der allwissende Erzähler notwendig, weil keine der Figuren alle wichtigen Informationen hat, oder ihr Gegenüber wirklich kennt. Den persönlichen Geschichten kann man nicht einmal trauen, weil die sie Erzählenden einen je eigenen Zugriff auf und ihre individuelle Wahrnehmung von Informationen haben.
Baldwin beschreibt den Rassismus als ein Problem, das in beide Richtungen beobachtbar ist: Weiße gegen Schwarze, Schwarze gegen Weiße. Ähnlich verfährt er mit dem Thema der Schuld. Gläubige, bis hin zu Kirchenvertretern, werden als alltägliche Menschen charakterisiert, denen Verfehlungen, Sünde nicht fremd sind. Sie werden abgesetzt gegen die Religion, die nicht negativ beurteilt wird.
Fazit
Baldwins Debüt „Von dieser Welt“ ist ein sprachlich bildreicher und vielschichtiger Roman, der die Geschichten einer Gruppe von Menschen erzählt und dabei verschiedene Themen behandelt. Zuerst ist es eine Geschichte über das Erwachsenwerden des Jungen John. Diese gewinnt an Komplexität dadurch, dass sie verbunden wird mit der Familie und deren Erwartungen, mit Religion und Rassismus, und wie all dies auf die Protagonisten wirkt in ihrem täglichen Kampf ums Dasein. John ist auf der Suche nach einem Ort, wo er dazugehört. Wo diese Zugehörigkeit, das Gefühl von Heimat, kein physischer Ort leisten kann, wird sie an einem spirituellen Ort gesucht, auch wenn John die religiöse Unaufrichtigkeit ablehnt.
Deine Meinung zu »Von dieser Welt«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!