Die Dörfler und die Fremden
Die hübsche und kluge Tochter kehrt wieder heim. Nicht triumphal und leuchtend, sondern verlegen und geknickt. In der Stadt hat sie nicht den Erwartungen entsprechen können, hat nicht das große Los gezogen und aus ihren Möglichkeiten etwas gemacht. Vielmehr hat sie versagt und sich als doch nicht so klug und einzigartig erwiesen. Überall im Dorf glaubt sie den schmachvollen Blick der Bewohnern auf sich zu spüren. Direkt wird sie nicht auf ihre Zeit in der Stadt und an der Universität angesprochen, aber sie kennt die Leute, weiß, was sie denken, ohne dass sie es hören muss. Schließlich handelt es sich um ihre Heimat, das Dorf, in dem sie aufgewachsen ist und die Welt als klein und beschränkt kennengelernt hat. Sie ist mit der Seele der Provinzler vertraut, auch wenn sie selbst oft die Außenstehende ist.
Der Leser folgt der jungen Xenia in ihren altbekannten Heimatort und kann dabei zuschauen, wie sich in der vermeintlichen Ruhe eines Dorfes Unmut und Zorn erheben. Nicht gegen Xenia, sondern gegen eine Gruppe Fremder, die aus Bürgerkriegsgebieten nach Deutschland geflüchtet sind. Sie werden dem Dorf zugewiesen und vorerst in einem alten Schulgebäude untergebracht. Xenias Mutter organisiert eine kleine Willkommensfeier, doch von der Bevölkerung zeigt sich niemand. Die erste Möglichkeit zum Kennenlernen und Näherkommen verstreicht ungenutzt. Typisch, denkt sich Xenia. Etwas anderes hatte sie kaum erwartet und da wird dem Leser klar, dass es sich bei den Dörflern um mürrische und verschlossene Personen handelt, die das Neue und Fremde ablehnen. Der weitere Verlauf der Geschichte und die ergänzenden Kommentare Xenias bestärken dann kontinuierlich dieses Urteil. Folgerichtig kommt es bald zu offenen Auseinandersetzung. In der Stammkneipe des Dorfes wird gegen die Fremden gewettert, es bildet sich eine Gruppe Widerständler, die öffentlich und für alle gut sichtbar die Aufnahme der Flüchtlinge ablehnt.
Exemplarisch zeigt der Roman einen Konflikt auf, der vielerorts seit 2015 ausgetragen wird. Im gesamten Bundesgebiet wurden Flüchtlinge untergebracht, oft in alten Schulgebäuden oder Sporthallen. Während derartige Ereignisse in den großen Städten wenig Aufmerksamkeit erregten, gab es im ländlichen Raum stärkere Reaktionen. In Kleinstädten und Dörfern spürte man die Präsenz der Neuankömmlinge stärker, da die überschaubare Harmonie der Orte oftmals keine großen Überraschungen und Veränderungen zu verkraften wusste. Es kam zu Protesten und feindseligen Bekundungen, an manchen Orten brach Gewalt aus.
Christoph Poschenrieder greift die damaligen und heute noch bedeutenden Ereignisse auf, erschafft in „Kind ohne Namen“ aber kein Abbild der deutschen Provinzrealität. Dem Ganzen haftet bei ihm eine Note Märchenwald an. Das Dorf im Buch ist abgeschieden von der Außenwelt und vom Mobilfunk, es ist eine kleine Welt, die für sich allein existiert. Über den Häusern und Bewohnern thront der Burgherr wie ein alter Fürst, er trifft alle Entscheidungen und kontrolliert die einfachen Leute, die Straßen und den Wald. Zudem leidet das Dorf unter einer mysteriösen Spinnenplage, die niemand erklären kann und die später den Fremden zugeschrieben wird. Höhepunkt des Ungewöhnlichen ist der Vertrag zwischen Xenias Mutter und dem Burgherrn. Ein ungetauftes Kind will dieser als Gegenleistung für falschen Frieden haben. Xenias Mutter, besorgt um die Stimmung im Dorf und die aufkommende Feindseligkeit, sagt zu. Sie weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ihre Tochter schwanger ist.
Vielschichtig ist der neue Roman von Christoph Poschenrieder, er verbindet gesellschaftlich relevante Thematik mit Klischees von Stadt und Land und erzählt dabei noch die Geschichte einer überraschenden Schwangerschaft samt abstruser Familienplanung. Leider wollen sich aber nicht alle Elemente miteinander verbinden und so bleibt vieles in der Schwebe. Die Entwicklungen im Dorf und Xenias familiäres Schicksal wollen nicht recht zusammenfinden. Während die Handlung beständig vorangetrieben wird und ihrem vermeintlichen Höhepunkt entgegenstrebt, bleiben mehrere Details im Dunkeln und das große Bild will sich dem Leser nicht unmittelbar erschließen. Zudem will die Mystik, und dazu gehört auch die Struktur des Buches, nicht mit dem konservativen Weltbild der Dorfbewohner harmonieren. Doch darin drückt sich letztendlich nur die Freiheit des Schriftstellers Poschenrieder aus, der seiner Kreativität keine Zwänge auferlegt, sie nicht in den Dienst politischer und sozialer Diskussionen stellen will, sondern dem Erzählen den Vorrang gibt. Gelungen ist ihm ein unterhaltsames Buch mit interessanten Einblicken und einigen Fragezeichen.
Christoph Poschenrieder, Diogenes
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