Literarischer Beitrag zur Auseinandersetzung mit Terror
Der Schriftsteller und Essayist Fernando Aramburu wurde 1959 in San Sebastian an der Baskischen Küste geboren. Er hat einige wichtige Literaturpreise erhalten, darunter den Premio Mario Vargas Llosa NH (2008) für „Los peces de la amargura“, dessen Kurzgeschichten von den Opfern der baskischen ETA erzählen und von der Faszination, die für manche Menschen von den Tätern ausgeht. Sein größter Erfolg ist „Patria“, der den Premio Nacional de Narrativa de España und den Premio de la critica erhielt, von der Zeitschrift ABC Cultural zum Buch des Jahres gewählt und für das Fernsehen verfilmt wurde. Allein in Spanien wurden bislang an die 400.000 Exemplare verkauft. Die deutsche Startauflage lag bei 35.000 Exemplaren. Von seinem umfangreichen Werk wurde 2000 „Fuegos con limón“ als „Limonenfeuer“ übersetzt, ist aber nicht mehr erhältlich. Seine Erzählung „Die Fische der Bitternis“ wurde in der Anthologie „Nacht der Erzählungen“ (Band 7, 2007) veröffentlicht. „Patria“ ist sein erster ins Deutsche übersetzter Roman. Seit Mitte der 1980er Jahre lebt Aramburu in Hannover.
In „Patria“ schreibt Aramburu über die baskische ETA (Euskadi Ta Askatasuna; Baskenland und Freiheit) und deren Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Die Organisation wurde 1959 als Widerstandsbewegung gegen das Franco-Regime gegründet und radikalisierte sich erheblich Mitte der 1970er Jahre. Nach über 4.000 Anschlägen mit mehr als 800 Toten endeten die gewalttätigen Handlungen der ETA in 2011, in 2018 löste die ETA sich auf. Aber die Trennlinie zwischen ETA und Bevölkerung, vor allem den Angehörigen der Opfer bleibt als offene Wunde sichtbar.
Aramburus 768 Seiten umfangreiches Buch hat in Spanien gezeigt, wie Literatur in der Lage sein kann, eine Gesellschaft zu erschüttern. Mario Vargas Llosa und der spanische Ex-Premierminister Mariano Rajoy haben den Roman hoch gelobt, eine der Organisationen, die sich aus Opfern der ETA-Gewalt gebildet hat, empfiehlt ihn und arbeitet daran, dass er in Schulen als Lektüre eingesetzt wird.
„Patria“ erzählt die Geschichte zweier Familien in einem baskischen Dorf. Txato, Ehemann von Bittori und Geschäftsmann, wurde vor zwanzig Jahren zuerst von der ETA bedroht und zahlte Schutzgeld, das Revolutionssteuer hieß. Als er die Zahlungen einstellte, verübte die ETA einen tödlichen Anschlag auf ihn. Antagonistisch positioniert wird die Familie von Miren und ihrem Mann Joxian. Ihr ältester Sohn Joxe Mari wurde Mitglied der ETA, mordete im Namen der Unabhängigkeit, wurde gefasst und kam ins Gefängnis. Dies führte dazu, dass seine Mutter Miren nicht nur Kontakt zu ihm hielt, sondern zu einer überzeugten Unterstützerin der ETA wurde. Bittori und Miren waren in ihrer Kindheit Freundinnen. Aber die Gewalt brachte sie auseinander und führte zur Feindschaft zwischen ihnen. Bittori und ihre Kinder mussten das Dorf verlassen.
Nachdem die ETA den bewaffneten Kampf im Jahr 2011 für beendet erklärt hat, sucht Txatos Witwe Bittori das Grab ihres Mannes auf und zieht wieder in ihr altes Haus. Sie will herausfinden, was vor zwanzig Jahren geschah. Sie hofft zudem, dass der Mörder, ein Dorfnachbar, um Vergebung bittet. Bittori, ein Opfer, das sich anmaßt, die Stimme zu erheben, statt in Scham über ihren Opferstatus zu versinken, missfällt der Dorfbevölkerung, die sich entweder heraushält oder, sollte dies nicht gelingen, auf Seiten der Täter stellt.
Die beiden Mütter sind die Hauptfiguren des Romans und repräsentieren die Spaltung der baskischen Gesellschaft, die Zerstörung organisch gewachsener sozialer Gemeinschaften durch den Terror. Ob es den Menschen gefällt oder nicht, sie müssen sich offenbar in dieser Spaltung positionieren, heißt, politische Partei nach einem einfachen Muster des Dafür oder Dagegen ergreifen. Nachdem Txato die Schutzgeldzahlungen eingestellt hat, wird er öffentlich von der ETA angefeindet, bald darauf von den Nachbarn und den Arbeitern in seiner Fabrik. Seine Familie wird ausgegrenzt und muss nach seiner Ermordung das Dorf verlassen.
Aramburu beschreibt auch Polizeigewalt, hier die Folter, der Joxe Mari im Polizeigewahrsam ausgesetzt ist. Ein weiteres Thema, mit dem er sich beschäftigt, lässt sich fassen unter dem Begriff des Umgangs mit der Vergangenheit: Bewältigung, Vergessen, Vergeben. Das Vergessen ist offensichtlich einfacher zu bewerkstelligen als das Vergeben. Die strenge Katholikin Bittori schreibt emotionale Briefe an Joxe Mari, in der Hoffnung, er möge um Vergebung bitten. Bittoris Tochter Nerea macht heilsame Erfahrungen. Ihr Bruder Xabier, ein Arzt, wird Alkoholiker. Mirens Tochter Arantxa ist nach einem Schlaganfall auf einen Rollstuhl und die Hilfe Dritter angewiesen. Ihr Bruder Gorka ist ein Schriftsteller, dem es gelungen ist, sich dem Einfluss der ETA zu entziehen. Er lernt jedoch aus Liebe zum Baskenland die Regionalsprache Euskera.
Die Charaktere und die Beziehungen sind vielschichtig und tief entwickelt. Aramburu konzentriert sich auf das Private und folgt darin dem baskischen Schriftsteller Miguel de Unamuno (1864-1936), der die Überzeugung vertrat, wahre Geschichte zeige sich im alltäglichen Leben der Menschen, nicht in offizieller Geschichtsschreibung. Deshalb rückt Aramburu nicht den Terror oder die politischen Institutionen in den Vordergrund, sondern die Personen, die in einer solcherart beschaffenen Welt leben müssen. Er erzählt in 125 kurzen Kapiteln mit wechselnden Perspektiven, darunter die Polizisten mit ihren Hausdurchsuchungen, Repressionen und der Gewalt gegen Gefangene. Auch der tote Txato erhält in Rückblicken eine Stimme.
Fazit
Fernando Aramburo porträtiert in seinem Roman „Patria“ dreißig Jahre blutiger Geschichte des Baskenlandes am Beispiel von neun Charakteren, darunter die Frauen Bittori und Miren, deren Freundschaft seit Kindertagen durch den Mord der ETA an Bittoris Mann ihr Ende findet. Ein starker Roman über die Notwendigkeit der Erinnerung und der Vergebung.
Deine Meinung zu »Patria«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!