Kontrapunkt
- Luchterhand
- Erschienen: Januar 2008
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- München: Luchterhand, 2008, Seiten: 215, Übersetzt: Hanni Ehlers
- München: btb, 2011, Seiten: 215
Klassische Musik als Brücke, um mit dem Leben fort zu fahren
Die Frau hat keinen Namen. Sie heißt einfach nur "Frau". Manchmal auch "Mutter". Zwar verweigert die Autorin Anna Enquist ihrer Protagonistin den Namen, was aber nicht heißt, dass sie neben ihrer Namenlosigkeit auch ohne Gesicht, ohne Profil daher kommt. Und schon gar nicht ohne Beruf: Pianistin.
Anna Enquist, geboren in Amsterdam, vermischt zahlreiche Geschichten zu einer. Im Mittelpunkt steht die "Frau" - ihr Schicksal. Sie hat ihre Tochter auf tragische Weise verloren, und versucht mit Hilfe der Musik über ihren Kummer hinweg zu kommen. Enquist, selbst ausgebildete Konzertpianistin und Psychoanalytikern, macht es sich dabei nicht leicht. Hangelt sie sich doch an Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen entlang.
Dabei versucht die "Frau" sich in Bachs Musik hinein zu versetzten, versucht zu verstehen, zu begreifen, warum Bach komponiert hat, wie er komponiert hat. Sinniert, ob es sinnvoll sei, alte Musik mit alten Instrumenten zu spielen und sucht Legitimität eben dieses nicht zu tun. Modern zu sein, abzuschweifen.
Bach hat seine 30 Variationen seinem toten Sohn Johann Gottfried Bernhard Bach gewidmet. Die "Frau" widmet es ihrer toten Tochter, um gegen das Vergessen anzukämpfen. Gegen das verblassen der Bilder in ihrem Kopf. Gegen die Angst, ihrer Tochter irgendwann nicht mehr Nahe zu sein. Sie kämpft gegen die Zukunft ohne ihr geliebtes Kind, möchte die Vergangenheit bewahren.
Dabei nutzt die Autorin geschickt ihr Wissen um die Musik. Zelebriert die Tonsätze auf Papier, erklärt, was möglich ist zu spielen, was nicht. Zieht Vergleiche mit dem kanadischen Komponisten Glenn Gould, seiner merkwürdig gebeugten Haltung beim Spiel. Svjatoslav Richter, russisch-deutscher Pianist, und der amerikanische Cembalist Ralph Kirkpatrick erhalten ebenso Einzug in die Erzählung. Präzise, genau – nicht allerdings – ohne den Bezug zur Tochter jemals zu überschreiben.
Die Tochter überstrahlt alle. Auch einen Bach. Sie ist allgegenwärtig, ihr Lachen leuchtet, ihre Gestik ist einmalig. Ihr Weg, erwachsen zu werden, ist es auch. So wie sich die Mutter im Spiel verliert, verliert sich die Tochter im Leben. Wohl behütet wächst sie auf, genießt alle Freiheiten, was später zur Sorge der Mutter wird: Sie bereut ihrer Tochter nicht mit auf dem Weg gegeben zu haben, dass das "gewöhnliche Leben" nicht immer leicht ist.
"Wie soll ich lernen, studieren, meine ich, wenn ich den ganzen Tag mit Leben beschäftigt bin?"
, fragt sich die Tochter selbst. Das Loslassen beider wird zur Qual.
Das Mädchen ist immer dabei, in Form kurzer Einspielungen. Sie erscheint als Kind im Ferienhaus am Meer, im Konzert, gemeinsam mit Bruder und Vater. Oft alleine. Die Mutter scheint eine besondere Beziehung zu ihr zu haben und beschließt nach dreißig schmerzhaft eingeübten Variationen, die letzte "Aria da capo" zur Musik ihrer Tochter zu machen. Das Stück beginnt mit einer Aria, spannt einen großen Bogen über Tempi und Themen, bis es schlussendlich mit einem versöhnlichen Klangbild endet.
Anna Enquist hat ein kluges Buch geschrieben. Eines, das voller Wissen und schöner Bilder steckt. Nicht nur musikalischen. Die Autorin liebt Details, was zunächst befremdlich wirkt, tragen ihre Protagonisten doch keine Namen. Neben der Familientragödie steht das Leben Bachs. So kennt der Leser zum Ende der über 200 Seiten langen Lektüre die Namen der Kinder und Frauen des Komponisten, wie ein Klavier funktioniert und was musikalisch nur schwer umzusetzen ist. Das Buch ist eine wunderschöne Liebeserklärung an gleich mehrere. An ein Kind und an die Goldberg-Variationen, die zwar – laut Deckblatt-Aufschrift Bachs – der "Gemüths-Ergetzung" dienen sollten, aber letztendlich eher dem Komponisten selbst halfen, der Trauer um das tote Kind zu entkommen. Die Klassik dient als Brücke, als Verbindung, um mit dem Leben fort zu fahren. Für Vater Bach und Mutter "Frau".
Zugegeben, die Autorin verstrickt sich in 30 komplizierte Variationen, was sicher für all jene interessant ist, die eine Affinität zur Musik haben. Wer sich nicht mit Klangbildern dieser Komplexität auseinander setzen möchte, sich nicht für die vielfältige Musik eines Johann Sebastian Bach und weiterer Komponisten interessiert, sollte das Buch lieber im Regal stehen lassen. Die kleine, feine, unbedingt lesenswerte Liebesgeschichte dazwischen, nimmt nämlich weniger als die Hälfte des Romans ein.
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